Eine Nacht an der Startbahn und zwei Jahre Prozeß

■ Auch nach dem Mammutprozeß ist der Tathergang des 2. November 1987 nicht wirklich aufgeklärt/ Noch kurz vor Prozeßende tauchten zwei neue Zeugen auf

Seit über einem Jahr ist der alte Schwurgerichtssaal im Frankfurter Gerichtsgebäude während der wöchentlichen Verhandlungen des Startbahnprozesses ein fast leerer Ort. Am 23. Februar 1989, vor über zwei Jahren, begonnen, sollte er den Tod der beiden Polizeibeamten Klaus Eichhöfer (44) und Thorsten Schwalm (23) am 2. November 1987 auf dem Gelände der Startbahn West des Rhein-Main-Flughafens aufklären. In jener Nacht wurden 14 Schüsse aus einer Polizeipistole (Marke Sig-Sauer, Modell P 6) abgegeben, die im Herbst 1986 bei einer Demonstration in Hanau verschwunden war. Eichhöfer und Schwalm starben noch auf dem Gelände, zwei weitere Polizisten wurden schwer, einer leicht verletzt.

Mittlerweile ist das öffentliche Interesse an dem Verfahren immer mehr gesunken. Zum Prozeßbeginn drängten sich die Zuschauer und Zuschauerinnen noch durch einen dichten Kordon von Polizeikontrollen, in letzter Zeit standen vor dem Gerichtsgebäude nur noch wenige Beamte und blickten gelassen in die Aktentaschen der PressevertreterInnen und die Rucksäcke der versprengten Reste der Öffentlichkeit aus der Startbahnbewegung. Die Zeit der gegenseitigen Haßtiraden, der demonstrativ zur Schau getragenen Pistolen und der Saalräumungen ist längst vorbei.

Am Anfang waren die Strommasten

Auch die Anklagebank, auf der ursprünglich sechs Männer und drei Frauen saßen, leerte sich schon vor geraumer Zeit. Nachdem der 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts unter Vorsitz von Richter Erich Schieferstein schon den Mammutprozeß durch teils überraschend milde Urteile entzerrt hatte, saßen dort nur noch zwei: die Hauptangeklagten Andreas Eichler (36) und Frank Hoffmann (28), beiden warf die Bundesanwaltschaft gemeinschaftlichen Mord vor.

Begonnen hatte das Verfahren mit der Beweisaufnahme zu einer Serie von Anschlägen auf Strommasten im Rhein-Main-Gebiet. Sie seien, so die Anklage, von allen gemeinsam als „terroristischer Vereinigung“ begangen worden. Bei einer dieser Aktionen war die Angeklagte Uschi J. im August 1986 durch den Lichtbogen eines umstürzenden Mastes im Süden Frankfurts schwer verletzt worden. Sie kam frei, weil das Gericht der Meinung war, sie habe durch die lebensgefährlichen Verbrennungen genug gelitten. Andere Strafen bewegten sich zwischen Geldbußen und mehrjährigen Haftstrafen. Den beiden davon betroffenen Männern rechnete das Gericht die lange Untersuchungshaft an. Auch sie wurden aus dem Gefängnis entlassen.

Chronik der Schüsse

Seit dieser Teil des Verfahrens abgeschlossen ist, schleppt sich die Aufklärung der Vorgänge an jenem 2. November 1987 dahin wie der Gang durch einen Tunnel, an dessen Ende auch am Tag der Urteilsverkündung eigentlich so recht kein Licht zu sehen ist. Fest steht nur folgendes: An dem Abend, an dem die Startbahnbewegung mit einer Demonstration den sechsten Jahrestag der Räumung ihres damals auf dem Baugelände errichteten Hüttendorfes begingen, waren die Polizeibeamten Matthöfer und Schwalm mit ihrer Hundertschaft beauftragt, eine Gruppe teils vermummter DemonstrantInnen vom Gelände vor der Startbahn West in den Mönchbruchwiesen zu vertreiben.

Dies alles fand im Dunkeln, ungefähr gegen 20.30 Uhr, statt, gespenstisch beleuchtet nur von in Brand gesteckten Heuballen und einigen Polizeischeinwerfern. Die Hatz ging über Bäche und eine Wiese auf den Waldrand zu. Knallkörper und Leuchtspurmunition flogen durch die Luft. Als Matthöfer und Schwalm gegen 21 Uhr plötzlich zu Boden stürzten, entstand ein heilloses Durcheinander in den Polizeireihen, das die spätere Spurensuche erheblich erschwerte.

Die Ergebnisse von späteren Recherchen der taz (veröffentlicht am 30.3. und 20.4.88) standen jedenfalls in krassem Gegensatz zu dem, was die Bundesanwaltschaft in ihrer Anklageschrift zum Tathergang annahm. Dreh- und Angelpunkt der Kontroverse war es, ob der oder die Täter wirklich gezielt auf einzelne Polizisten geschossen hatten, ob dies bei der Lage der Treffer und aus der von der Polizei ermittelten Entfernung von mehreren hundert Metern überhaupt möglich gewesen sei. Ballistische Gutachter kamen zu dem Ergebnis, daß die tödlichen Schüsse auf diese Distanz nur „Zufallstreffer“ gewesen sein könnten, der unbekannte Schütze im Gegenteil hoch über die Köpfe der Beamten gezielt habe, also „fahrlässig“ getötet haben müsse.

Die Bundesanwaltschaft hingegen nahm vorsätzlichen Mord und ein Tatgeschehen an, das bei zahlreichen Experten auf Verwunderung stieß. Sie behauptete, beide Hauptangeklagten hätten gemeinschaftlich und gezielt geschossen — sich immer wieder an der Waffe abwechselnd, während sie vor der Polizei flüchteten. Sie stützte ihre Anklage gegen Eichler zum einen auf den Fund der Tatwaffe in seinem Rucksack, den er in der Wohnung seiner Freundin versteckt hatte, und auf Schmauchspuren an seiner Kleidung. Hoffmann sei gleichberechtigt beteiligt gewesen, ein Zeuge habe ihn gesehen und erkannt.

Eichler war gleich am nächsten Morgen verhaftet worden, Hoffmann flüchtete nach Holland. Dort wurde er im März 1988 gestellt und verhaftet, nachdem er einem Polizisten durch verdächtiges Verhalten aufgefallen war. Er wurde im Sommer 1988 in die Bundesrepublik ausgeliefert.

Arthur und Anna sagen aus

Andreas Eichler machte, ebenso wie Dutzende Festgenommene aus der „Szene“, gleich zu Anfang die widersprüchlichsten Aussagen. Er belastete, laut Protokoll, dabei Frank Hoffmann schwer. Der habe ihm, sagte Eichler, die Pistole untergeschoben. In den ersten Monaten nahm das Wirrwarr der Aussagen, in dem sich das Gericht zurechtfinden mußte, immer mehr zu. Die Flut der Behauptungen und Gerüchte, die Bundesanwaltschaft und Polizei zusammensammelten, indem sie Zeugen mit dem Vorwurf der Beihilfe zum Mord drohten, kam erst zum Stillstand, als eine Kampagne „Arthur hält's Maul“, später um eine gleichberechtigte „Anna“ ergänzt, auf das Recht (und eine politische Pflicht) zur Aussageverweigerung aufmerksam machte.

Bis dahin aber hatte sich die „Bewegung“ untereinander schon derart heillos zerstritten, daß sie sich bis heute nicht wieder davon erholte. Gleichzeitig wurde Eichler „Verrat“ vorgeworfen. Die Quintessenz läßt sich kaum ziehen. Eichler sagte in seinem eindrücklichen Schlußwort immer wieder: „Ich habe nicht geschossen!“ Den Vorwurf, Hoffmann habe ihm die bei ihm gefundene Tatwaffe untergeschoben, erhielt er nicht mehr eindeutig aufrecht. Frank Hoffmann sitzt seit Prozeßbeginn schweigend auf der Anklagebank.

Zwei Überraschungszeugen

Diejenigen BerichterstatterInnen, die in diesem Mammutverfahren mit inzwischen 125 Verhandlungstagen, über 100 ZeugInnen, rund zwei Dutzend Gutachtern und über 60 Befangenheitsanträgen bis zum Ende ausgeharrt haben, versteigen sich in der Langeweile der zahlreichen Verhandlungspausen schon manchmal zu Detektivspielen. Und die sind wie ein Wechselbad. Einerseits wirkt der introvertierte, an einen akribischen Bankangestellten erinnernde gelernte Werbefachmann Eichler auf sie manchmal „absolut glaubwürdig“, andererseits belasten ihn schwere Indizien.

Hoffmann wiederum ist inzwischen, fast gegen Prozeßende, von zwei Überraschungszeugen erheblich entlastet worden. Einer erklärte, an diesem Abend mit Hoffmann zusammengewesen zu sein. Er könne keinesfalls geschossen haben. Der andere sagte aus, er habe im Gegenteil Eichler anhand von Augen- und Nasenpartei als Schützen erkannt — trotz Vermummung und Haßkappe. Eichler bezichtigte beide der Lüge. Daß sie sich so spät gemeldet hätten, erklärten sie damit, daß sie Angst gehabt hätten, mit den Schüssen in Zusammenhang gebracht zu werden.

Der mit Spannung erwartete Krieg der Giganten, der renommierten Strafverteidiger Armin Golzem und Johannes Riemann für Eichler, und Jürgen Borowski und Stephan Baier für Hoffmann, fand kaum statt. Beide Parteien beschränkten sich in der Verteidigung auf kleinere Geplänkel. Ihre Positionen legten sie in den Plädoyers fest: Einhellig forderten sie Freispruch für ihre Mandanten von allen Tötungsdelikten. Golzem vermutete hinter den Beschuldigungen der Zeugen gegen Eichler einen Akt der „Bestrafung“ durch Teile der Startbahnbewegung.

Sein Kollege Riemann bezweifelte, daß der unbekannte Schütze überhaupt töten wollte, er habe vielleicht „nur rumknallen“ wollen. Dann bliebe nur noch die Beteiligung an zwei Strommasten-Anschlägen. Rädelsführer sei er dabei aber nicht gewesen. Hoffmanns Anwälte Baier und Borowski verwiesen ihrerseits auf die unklaren Aussagen jenes anderen Zeugen, der ihren Mandanten als Schützen erkannt haben wollte. Er sei von der Polizei unter Druck gesetzt worden. Dies gelte auch für die Eichler-Aussage, die „eine Art Flucht nach vorn“ gewesen sei. Heide Platen