INTERVIEW
: Bonner Protest ist unglaubwürdig

■ Nicolas Becker, Anwalt Honeckers, über die späten Reaktionen der Bundesregierung

taz: Herr Becker, Sie haben als Verteidiger von Erich Honecker erst am Donnerstag vormittag im Militärkrankenhaus von Beelitz von der Abreise ihres Mandanten nach Moskau erfahren. Waren Sie überrascht?

Nicolas Becker: Mein Kollege Wolfgang Ziegler und ich wollten am Donnerstag Herrn Honecker einen Routinebesuch abstatten. Dabei ist uns mitgeteilt worden, daß dieser Besuch nicht möglich wäre. Natürlich waren wir überrascht — wir wußten von nichts. Wir wären auch nicht nach Beelitz gefahren, wenn wir gewußt hätten, daß wir uns diese Reise hätten ersparen können.

Offiziell heißt es nun, daß sich der Zustand des früheren DDR-Staatschefs so verschlechtert habe, daß er zur weiteren medizinischen Behandlung nach Moskau gebracht werden mußte. Gab es irgendwelche Anzeichen dafür, daß sich Honeckers Gesundheitszustand in den letzten Wochen oder Tagen rapide verschlechtert hat?

Mein Kollege Ziegler war am Donnerstag letzter Woche bei ihm. Er hat mir anschließend berichtet, daß er ihn noch nie in einem so schlechten Zustand gesehen hat. Ich glaube, daß bei den medizinischen Problemen, die grundsätzlich bei Herrn Honecker vorliegen, plötzliche Verschlechterungen immer im Bereich des Möglichen liegen. Deshalb habe ich auch keinen Anlaß, an den Angaben der sowjetischen Ärzte zu zweifeln.

Aber es verwundert schon, daß Honecker ausgerechnet in ein Moskauer Krankenhaus geflogen wurde.

Die Russen haben immer gesagt, daß sie den Fall Honecker im wesentlichen als ein humanitäres Problem ansehen und daß sie sich um sein Wohl und seine Bleibe kümmern wollen. Nachdem ihnen das hier in ihren Institutionen nicht möglich ist, waren sie wohl der Meinung, daß sie das dann eben in ihrem eigenen Land tun müssen.

Das Berliner Kammergericht hat letzte Woche den Haftbefehl gegen Honecker wegen Anstiftung zum Totschlag bestätigt. Wie kommt es, daß jemand, der mit Haftbefehl gesucht wird, so mir nichts dir nichts über die Grenze verschwinden kann?

Ich vermute, daß Honecker mit einem Sanitätswagen aus Beelitz zu einem sowjetischen Militärflughafen gebracht wurde. Man hat uns auch gesagt, daß er mit einem Flugzeug nach Moskau gebracht wurde.

Die Bundesregierung hat in einer ersten Reaktion gefordert, daß Honecker unverzüglich in die Bundesrepublik zurückgebracht werden muß. Ein Auslieferungsabkommen zwischen Bonn und Moskau existiert aber nicht. Sehen sie überhaupt noch Chancen, daß jemals ein Verfahren gegen Honecker stattfindet?

Ich weiß nicht, wie sich der Gesundheitszustand Honeckers weiter entwickeln wird. Selbst wenn er hier geblieben und in Haft genommen worden wäre, erscheint es mir höchst zweifelhaft, ob der geplante Mammutprozeß gegen Honecker angesichts seines Gesundheitszustandes überhaupt hätte durchgeführt werden können. Ich denke, daß ein Strafprozeß jetzt noch unwahrscheinlicher geworden ist, als er es schon vorher war. Im übrigen hat mich verwundert: Wenn sich die Bundesregierung jetzt über diese Verbringung so ärgert, frage ich mich, warum sie nicht, unmittelbar nachdem sie das erfahren hat, dagegen protestiert hat. Anscheinend ist sie ja schon vor der Abreise Honeckers — zumindest aber zeitgleich — informiert worden. Ihre Empörung hat die Bundesregierung aber erst nach Zeitungsberichten und unseren Erklärungen gezeigt. Diese nachträgliche Empörung macht auf mich keinen besonders überzeugenden Eindruck.

Den BürgerInnen aus der alten DDR dürfte es aber ziemlich aufstoßen, daß der führende Repräsentant, der vor Gericht für vierzig Jahre DDR zur Verantwortung gezogen werden sollte, sang- und klanglos verschwunden ist. Können Sie diesen Ärger verstehen?

Ich kann den Ärger von Leuten, die unter diesem Regime gelitten haben, immer verstehen. Aber ich denke, daß es auch unter den Politikern viele gibt, die erleichert sind, daß sich das Problem vorläufig so erledigt hat. Ich glaube, daß seit der Wiedervereinigung und seitdem die Ermittlungen gegen Honecker geführt werden, gar nichts Neues über ihn herausgekommen ist, was man nicht schon vorher hätte wissen können. Aber die Machtverhältnisse haben sich geändert, und die gleichen Politiker, die Honecker jetzt wegen schwerer Straftaten vor Gericht ziehen wollen, haben bei ihm vor zwei Jahren noch um Foto- und Fernsehtermine angestanden. Daß dies auch eine für die Politiker peinliche Situation ist, liegt auf der Hand. Interview: Wolfgang Gast