Das Leben nach dem Rausschmiß

■ Die Beratungsstellen des DGB in Ost-Berlin werden nach der Kündigungswelle von Hilfesuchenden förmlich überrannt

Köpenick. Die acht Rechtsberatungsstellen des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Ost-Berlin und Brandenburg werden täglich von Hilfe- und Ratsuchenden nahezu überrannt. In den Betrieben hagelt es Entlassungsschreiben zum 30. Juni 1991, die Null-Kurzarbeiter von heute sind die Arbeitslosen von morgen. Das DGB-Büro in Köpenick hat besonders viel zu tun. Es hilft den Gewerkschaftsmitgliedern der Bezirke Köpenick, Hellersdorf, Lichtenberg, Marzahn, Treptow und Neukölln bei allen arbeitsrechtlichen Problemen. Weil sich aber genau in diesen Bezirken und allen voran in Köpenick die Elektroindustrie konzentriert, kommen die drei Rechtssekretäre in der Alt-Köpenicker Straße39 derzeit vor Arbeit kaum aus den Schuhen.

Seit dem vergangenen Freitag erhalten die KurzarbeiterInnen des Werks für Fernsehelektronik (WF) und der Elektro-Apparate-Werke (EAW) ihre Kündigungen. Bei WF werden es 5.300 sein, bei der EAW um 3.500. Die von den Betriebsräten erarbeiteten Sozialpläne hat die Treuhand bisher abgelehnt. Zu teuer, wurde dem WF-Betriebsratsvorsitzenden Holger Kaselow gesagt, achtzig Millionen würde er kosten, die Arbeitgeber halten 31 Millionen für angemessen. Das ist viel zuwenig, um Umschulungs- und Qualifizierungsmaßnahmen zu bezahlen. Für Abertausende wird es ab Juli deshalb nur noch eine Beschäftigung geben: Schlangestehen beim Arbeitsamt.

Die Verzweiflung ist jetzt groß, ein Leben ohne Arbeit können sich die ehemaligen DDR-Bürger nicht vorstellen. Die Kurzarbeit haben die meisten von Entlassung Bedrohten wie einen Sommerregen hingenommen, immer wartend, daß irgendwann noch mal die Sonne scheint. Dieser Wetterumschwung hat nicht stattgefunden. Im Juli, so hat die IG Metall errechnet, werden über 26.000 Berliner Elektro- und MetallarbeiterInnen auf der Straße stehen, die meisten davon in Köpenick.

Das Zauberwort: Widerspruch gegen die Kündigung

Jetzt gibt es nur noch einen Strohhalm in all dem Unglück, und das ist die Hoffnung, zu Unrecht gekündigt worden zu sein. Und deshalb reißen sich die in den vergangenen Monaten in Apathie und Resignation gefallenen KollegInnen noch einmal am Riemen und kommen in die Betriebsrätebüros der Firmen, in die Informationsbüros der Einzelgewerkschaften oder eben in die DGB- Rechtsberatungsstelle nach Köpenick. Ulrich Kreit, einer der drei Rechtssekretäre, hört es jeden Tag x-mal. Eine Kündigung pauschal aus »betriebsbedingten Gründen«, so der Terminus technicus für den Rausschmiß, reicht zur Rechtsgültigkeit nicht aus, weil sie im einzelnen Fall sozial ungerechtfertigt und daher unwirksam sein kann. Wieso gerade ich? fragen die WF- oder EAW-Beschäftigten, und sie bitten Ulrich Kreit, Klage beim Arbeitsgericht zu erheben.

Das Zauberwort heißt: Widerspruch. In jedem einzelnen Fall. So oft, daß die Gewerkschaften jetzt schon ein Widerspruchsformblatt entwickelt haben, eines speziell für WF, ein anderes für EAW. Es wird Jahre brauchen, bis die völlig überlasteten Arbeitsgerichte sich durch diese Widerspruchsflut durchgeackert haben.

Denn jeder Fall ist anders. Vor Ulrich Kreit sitzt die 54jährige Ingenieurin Helga L. Über zwanzig Jahre lang hat sie beim Ministerium für Elektrotechnik und Elektronik die Normen für DDR- und Ostexportgüter ausgearbeitet. Als im vergangenen Jahr das Ministerium aufgelöst und die ostüblichen Maße auf die DIN-Normen umgestellt wurden, war sie überflüssig und wurde in das EAW-Werk umgesetzt. Seit Dezember arbeitet sie mit Kurzarbeitergeld null Stunden, am vergangenen Donnerstag erhielt sie ihre Kündigung zum 30. Juni. Helga L. versucht, die Fassung zu bewahren, aber es gelingt ihr schlecht. Die Frau ist verzweifelt. Wäre da nicht ihr behinderter Mann, der sie braucht, sagt sie, würde sie sich umbringen. Nach zwanzig Jahren Arbeit, bilanziert sie bitter ihr Leben, »werde ich weggeworfen wie ein Stück Müll«. Sie ist zu alt, um eine neue Arbeit zu bekommen, sagt sie, aber zu jung, um die günstigere Vorruhestandsregelung in Anspruch nehmen zu können. Jetzt wird sie, entsprechend ihrer langen Berufstätigkeit und ihrem Alter, zwei Jahre lang ein Arbeitslosengeld bekommen. Aus der anschließenden Arbeitslosenhilfe wird sie herausfallen, weil bei deren Berechnung das Einkommen des Ehemannes angerechnet wird. Die Rente, sagt sie, wird deshalb sehr mager ausfallen. Die Frauen zwischen vierzig und sechzig, sagt Helga L., haben wie keine andere Bevölkerungsgruppe in der ehemaligen DDR »ihr Leben umsonst geopfert«.

Ulrich Kreit wird Widerspruch gegen die Kündigung von Helga L. einlegen. Bei einer so langen Berufstätigkeit sei die Kündigungsfrist zu kurz bemessen, wird er argumentieren. Die Arbeitszeiten beim ehemaligen Elektroministerium müssen angerechnet werden. Für Helga L., meint Kreit, besteht die Chance, eine Abfindung einzuklagen.

Überhaupt: Die meisten Hilfesuchenden im DGB-Beratungsbüro sind Frauen. Denn sie haben die kleinsten Chancen, einen neuen Arbeitsplatz zu finden; viel größer scheint die Möglichkeit, die endgültige Arbeitslosigkeit noch einen oder zwei Monate hinausschieben zu können, das Unglück sozusagen noch etwas zu vertagen. Nicht gut allerdings stehen die Aussichten für Christa G. und ihre drei Kolleginnen von der Küche der Yachtwerft GmbH. Das ist auch ein besonderer Fall, ein Stück Wildwest im nahen Osten. Ulrich Kreit wird am Abend noch einige Bücher wälzen, denn dieses Gaunerstück möchte er vor das Gericht bringen.

Das Gaunerstück um Küche und Köchinnen

Die Kantine der »Yachtwerft« (GmbH seit Frühjahr 1990) wurde im vergangenen September von der Ostberliner Großküche »Bärenmenü« übernommen. Aber da gab es noch eine »Altlast«, nämlich elf Köchinnen, Küchenhilfen und Serviererinnen. Eine kurzfristige Kündigung wäre der Yachtwerft teuer zu stehen gekommen, die Damen kochten und richteten zum Teil schon seit 25 Jahren die Mahlzeiten für die Köpenicker Werftarbeiter am Wendenschloß.

Also wurde mit tatkräftiger Hilfe des Betriebsratsvorsitzenden der Yachtwerft, des ehemaligen Genossen Dunkel, den Wirtschafterinnen ein Knebelungsvertrag angeboten. Bärenmenü wird die elf in der gleichen Küche am gleichen Ort ein halbes Jahr weiterbeschäftigen, allerdings nur unter der Voraussetzung, daß sie einen neuen Arbeitsvertrag unterschreiben, in dem sie auf ihre alten, durch lange Arbeitsjahre erworbenen Kündigungsfristen und Treueprämien bei der Yachtwerft GmbH verzichten. Zudem müßten sie eine indirekte Lohnkürzung hinnehmen, Bärenmenü könne sie nur dreißig anstatt vierzig Stunden beschäftigen.

Die Frauen, zwar wütend, aber völlig ahnungslos über ihre Rechte und vor allem über die Folgen, unterschrieben diesen Erpressungsvertrag. Jetzt ist das halbe Jahr vorbei, am 31. März läuft der befristete Arbeitsvertrag ab. Aus »Rentabilitätsgründen«, schrieb Bärenmenü in der vergangenen Woche, könne man die Frauen nicht weiterbeschäftigen, sie hätten ihren Arbeitsplatz am Wendenschloß zu verlassen. Aber, und dies stellte sich erst in den letzten Tagen heraus, die ganze Abmachung zwischen der Yachtwerft GmbH und Bärenmenü war offenbar ein abgekartetes Spiel, war eingefädelt worden nur aus einem einzigen Grund: die Frauen ohne Folgekosten schnell loszuwerden. Ab dem 31.März nämlich, erfuhren die überraschten Frauen, wird die Küche wieder von der Yachtwerft GmbH übernommen und wie zuvor in eigener Regie geführt werden. Nur mit einem Unterschied. Statt elf Küchendamen wird der marktwirtschaftlich gewendete Betrieb in Zukunft nur noch fünf beschäftigen. Christa G. und ihre drei beim DGB erschienenen Mitstreiterinnen werden sicher nicht zu den fünf Auserwählten gehören, dafür sind sie zu alt und — wenn auch mit Verzögerung — zu aufmüpfig. Genau kennen sie ihre Zukunft aber noch nicht. Die Yachtwerft GmbH möchte erst Ende März den fünf neuen und alten Köchinnen einen Arbeitsvertrag anbieten. Die übrigen sechs werden im wahrsten Sinne des Wortes verkauft worden sein, sagt Ulrich Kreit, denn sie fallen, weil sie seinerzeit den Kündigungsvertrag unterschrieben haben, »aus aller Sozialbindung heraus«.

Ein Gewinner dieses ganzen Spiels scheint immerhin festzustehen. Der Betriebsratsvorsitzende Dunkel hat »auf dunklen Wegen«, wie die Frauen sagen, inzwischen zwanzig Prozent der Aktien der Yachtwerft in die Hand bekommen.

Anita Kugler

Telefonische Anmeldung bei den Beratungsstellen in Köpenick: 6504146 und Mitte: 2793044.