Wenn Therapeuten ihre Macht mißbrauchen

Späte Erkenntnis in der Fachöffentlichkeit: Sexueller Mißbrauch in der Therapie ist kein „Kavaliersdelikt“/ Geringe Sanktionsmöglichkeiten gegenüber den Tätern  ■ Von Helga Lukoschat

Die Erkenntnis setzte sich in der Öffentlichkeit schneller durch als bei den Fachverbänden: Sexueller Mißbrauch in der Therapie ist kein „Kavaliersdelikt“. Nun reagierte endlich auch die Fachöffentlichkeit. Auf einem Hearing in Bonn Anfang des Jahres, zu dem die Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie auf Initiative ihrer Frauengruppe Fachverbände und ExpertInnen eingeladen hatte, wurde deutlich, wieviel zu tun bleibt.

Ausbildungsreformen sind ebenso nötig wie berufsrechtliche Regelungen und bessere Sanktionsmöglichkeiten. Für die betroffenen Frauen wiederum gibt es kaum die dringend nötigen Selbsthilfegruppen und Ansprechstellen.

Es ist das Verdienst einiger weniger Therapeutinnen und engagierter Frauen, das Thema aus der Zone des Schweigens und Verschweigens herausgeholt zu haben. Die Tradition ist lang. Schon Gründungsvater Freud hatte Befürchtungen, zu lautes Nachdenken über die Problematik könne dem Image seiner Wissenschaft Schaden zufügen. Als sein damaliger Lieblingsschüler Carl Gustav Jung seine Patientin Sabina Spielrein in eine Liebesbeziehung verwickelte und diese Liebe anschließend jämmerlich verriet, zeigte Freud sich überaus verständnisvoll. Das Thema wurde unter den Tisch gekehrt. Bis heute fehlt hierzulande zum Beispiel eine repräsentative wissenschaftliche Untersuchung. In den USA dagegen erscheinen bereits seit den 70er Jahren zahlreiche Veröffentlichungen. Danach gaben 7 bis 12 Prozent der befragten männlichen Psychologen und Psychiater „erotischen Kontakt und oder Geschlechtsverkehr“ mit ihren Patientinnen an, bei den Frauen waren es dagegen nur zwei bis drei Prozent. „In der Regel ist es ein Therapeut, der sich auf eine Affäre mit einer meist erheblich jüngeren und attraktiven Patientin einläßt“, erkannte die Sozialwissenschaftlerin und Psychologin Irmgard Vogt, eine der Initiatorinnen des Bonner Hearings.

Die Frauen stehen dabei auf der Seite der Verlierer. Die „Affäre“ bezahlen sie mit psychischen Leiden und möglicherweise schweren psychosomatischen Beschwerden. Die US-amerikanische Fachliteratur bezeichnet das Krankheitsbild inzwischen als „Therapeut-Patient-Sex- Syndrom“.

Sexuelle Übergriffe, darin sind sich Therapeutinnen und Wissenschaftlerinnen einig, beginnen nicht erst mit Geschlechtsverkehr. Die für die Frauen oft so verhängnisvolle Verwandlung einer therapeutischen in eine sexuelle Beziehung, kennt ihre eigene Dynamik. Beginnen kann es bereits mit Gesten und Zweideutigkeiten, sexualisierter Sprache und erotischen Berührungen. Wenn der Therapeut bei Entspannungsübungen plötzlich seine Hände über Brüste und Bauch seiner Patientin gleiten läßt. Oder sich so eng neben sie legt, daß sie seinen erigierten Penis spüren muß. Oder sie auffordert, in der Therapie mehr ihr „Frausein“ zu leben und aufzuhören, ihre Sexualität zu verstecken.

Über all diese Formen berichteten Frauen der Bremer Ärztin und Psychotherapeutin Elisabeth Pahl, die auch als Lehrtherapeutin das Thema in Ausbildungsseminaren behandelt. Sich gegen die Übergriffe zur Wehr zu setzen, fällt den meisten Frauen nach Erkenntnis der Bremer Ärztin überaus schwer. In psychoanalytischer Sicht enthält die therapeutische Situation immer auch Übertragungselemente.

In der Therapie werden Kindheitsgefühle wachgerufen; die unerfüllt gebliebenen Wünsche nach Geborgenheit, Zärtlichkeit, Liebe auf den Therapeuten „übertragen“. „Viele Frauen, die eine Therapie machen“, schreibt Elisabeth Pahl, „haben als Kind und Mädchen erfahren, vom Vater nicht angenommen worden zu sein, was zu ihrem psychischen Leid führte. Genau in diesem psychodynamischen Zusammenhang ist die Klientin zu sehen, die sich an die Erwartungen des Therapeuten anpaßt und sich auch auf Sexualität einläßt oder den Therapeuten sogar sexuell begehrt, um endlich einmal ganz angenommen zu sein.“

Werden die sexuelle Beziehung zwischen Therapeut und Patientin ruchbar, streiten die allermeisten Männer das Geschehen ab. Hilft das Leugnen nicht, wird häufig der Frau als „Verführerin“ die Schuld zugeschoben. Ein Erklärungsmuster, das deutlich an Entlastungsstrategien gegenüber Vergewaltigungen erinnert: der Täter wird zum Opfer.

Zweifellos werden Frauen auch von sich aus aktiv; und es kann nicht nur die oben beschriebene Übertragungssituation sein, die sie heftige Verliebtheitsgefühle empfinden läßt. Vielleicht erleben sie mit dem Therapeuten tatsächlich zum ersten Mal einen Mann, der ihnen zuhört, ihre Probleme ernst nimmt — Eigenschaften und Verhaltensweisen, die viele Männer in normalen Leben vermissen lassen. Doch es ist immer die Aufgabe des Therapeuten, Grenzen zu ziehen. In der therapeutischen Beziehung herrscht ein Machtgefälle. Die Patientin befindet sich in einer Position der Abhängigkeit, der Therapeut bestimmt die Spielregeln. Für Uwe Wetter vom Bund Deutscher Psychologen ist deshalb klar, wie sich ein Therapeut in dieser Sitatuation zu verhalten hat. Entweder hat er die Gefühle seiner Patientin zum Thema der Therapie zu machen und bringt sie damit auf eine andere Ebene. Oder, wenn er selbst eine Attraktion spürt, hat er die Klientin an eine Kollegin oder Kollegen zu überweisen. Selbst die Variante, die Therapie abzubrechen, um „privat“ eine Liebesbeziehung einzugehen, ist für Wetter äußerst fragwürdig. Aus einer Machtbeziehung könne kaum eine gleichberechtigte Liebe entstehen.

Doch gerade die Macht, die Therapeuten qua Funktion besitzen, verführt sie offenbar dazu, sie für ihre eignen Bedürfnisse und Zwecke zu mißbrauchen. Bisherige Forschungen lassen vermuten, daß sich besonders die Therapeuten Übergriffe zu schulden kommen lassen, die selbst in einer Beziehungskrise stecken und sich sexuelle Befriedigung wünschen. Oder es kann in psychoanalytischer Sicht eine „narzistische Störung“ vorliegen: der Therapeut braucht und genießt es, für seine Klientin der Mann schlechthin, der „Retter und Erlöser“ zu sein. Und schließlich kann noch ein männlicher Machtgenuß besonderer Art ins Spiel kommen: „Die Frau weiß nie, woran sie ist. Der Therapeut bestimmt, wann in der Stunde Sex oder Therapie angesagt ist, und dies Verhalten“, so die Wissenschaftlerin Irmgard Vogt, „kann er sich bei seiner ständigen Partnerin sicher nicht leisten“.

Der Preis ist dabei hoch für die Frauen. Sie fühlen sich oft schuldig, schämen sich, daß sie es „soweit“ kommen ließen. Leugnet der Therapeut das Geschehen im nachhinein, werden die Patientinnen stark verunsichert und mißtrauen ihren eigenen Erinnerungen. Das kann wiederum zu generellen Störungen in ihrer Wahrnehmung führen. Irmgard Vogt: „Die Frauen fragen sich dann: stimmt das, was ich höre und fühle?“ Dazu kommen nach Erkenntnissen der Wissenschaftlerin Schwierigkeiten, Grenzen zu ziehen und andere wissen zu lassen: bis hierher und nicht weiter. All dies ähnelt stark den Leiden, mit denen sexuell mißbrauchte Mädchen zu kämpfen haben. Und nicht zufälligerweise sind es sehr häufig Frauen, die bereits in ihrer Kindheit Opfer von sexuellem Mißbrauch wurden, die in der Therapie erneut eine Grenzverletzung an ihrer Person erleben müssen.

Während in den USA bei Schadensersatzprozessen Summen in Millionenhöhe an die Frauen gezahlt werden, wurde in der Bundesrepublik bisher ein Prozeß vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf gewonnen; die Klägerin mußte vier Jahre kämpfen, um schließlich mit 10.000 Mark Schadensersatz abgespeist zu werden. Nötig erscheinen vielen ExpertInnen deshalb Verbesserungen im Zivilrecht. Hier könnte zum Beispiel die Umkehr der Beweislast den Frauen die Situation vor Gericht erheblich erleichtern. Nötig sind ferner klare Richtlinien der psychotherapeutischen Verbände und berufsrechtliche Regelungen, die Therapeuten mit Kammerberufen wie Ärzten oder Juristen gleichstellen. So schreiben die Vorschriften des Bundesverbandes der Psychologen zwar explizit „sexuelle Abstinenz“ vor, aber Missetäter können lediglich vor ein internes Ehrengericht gebracht werden. Ein Berufsverbot auszusprechen ist nicht möglich. Der inkriminierte Therapeut kann immer noch in eine andere Stadt ausweichen und dort munter weitermachen. Denn nach den bisherigen Erkenntnissen ist der klassische Fall der Wiederholungstäter.