„Jugoslawien ist im Todeskampf“

■ Der Rücktritt des Vorsitzenden des jugoslawischen Staatspräsidiums hat eine umfassende Staatskrise in dem Balkanland ausgelöst/ Die zentralen Institutionen haben an Macht verloren

Im vom Zerfall bedrohten Jugoslawien hat sich am Wochenende die Staatskrise dramatisch zugespitzt. Nachdem Staatspräsident Borisav Jovic demonstrativ zusammen mit zweien seiner Stellvertreter zurücktrat, ist der Balkanstaat ohne Staatsoberhaupt und vor allem ohne Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Der Serbe Jovic, Nenad Bucin aus Montenegro und Dragutin Zelenovic aus der Wojwodina begründeten ihre Schritte lediglich mit den Worten, sie wollten nun keine Mitverantwortung mehr für den drohenden Zerfall Jugoslawiens und die wachsende Bürgerkriegsgefahr tragen.

Doch hinter dem formellen Rücktritt verbirgt sich eine äußerst explosive Machtprobe. Alle drei hatten in der letzten Woche im achtköpfigen „kollektiven Staatspräsidium“ — das bei folgenschweren Entscheidungen wie der Ausrufung des Ausnahmezustandes oder wie bei der augenblicklichen Ausarbeitung eines neuen „All-Unions-Vertrages“ zwischen den Republiken und der Belgrader Zentrale um Spitzenpolitiker der Bundesregierung und hoher Militärs erweitert wird — eine herbe Niederlage einstecken müssen. Nachdem es Jovic am vorletzten Wochenende noch gelungen war, Panzer in die Hauptstadt zu schicken, um „Ruhe und Ordnung“ herzustellen, verweigerte die Mehrheit im kollektiven Staatsprädidium ihm und der Generalität am Dienstag die Gefolgschaft. Den Ausnahmezustand über das gesamte jugoslawische Staatsterritorium auszurufen, ging den anderen Mitgliedern des Staatspräsidiums zu weit.

In einer Fernsehansprache anläßlich seines Rücktritts beklagte der demissionierte Präsident denn auch am Samstag die „Politik der vollendeten Tatsachen“, die separatistische Kräfte ungestört haben aufbauen können, um den Zerfall Jugoslawiens zu beschleunigen. Man habe tatenlos zusehen müssen, wie in manchen Landesteilen bewaffnete Einheiten aufgestellt wurden und wie die „falsche Wirtschaftspolitik“ der Regierung Markovic das Land ins wirtschaftliche Elend treibe. Jovics Freund, der serbische Präsident Slobodan Milosevic, sprach dann kurze Zeit später im Fernsehen aus, was Jovic nicht so klar beim Namen nennen wollte: „Die letzte Phase des Todeskampfes Jugoslawiens hat begonnen.“ Serbien werde „alle Mittel, die zur Verfügung stehen“ einsetzen, um „Jugoslawien um jeden Preis zu erhalten“, erklärte der Präsident. Die Frage ist, ob er dies wirklich vorhat. Denn im gleichen Atemzug erklärte er, für die Republik Serbien habe das kollektive Staatspräsidium aufgehört zu existieren. Und das ist immerhin das wichtigste die Einheit des Staates verkörpernde Verfassungsorgan. Den Kroaten Stipe Mesic, der einem Rotationsprinzip zufolge neuer Staatspräsident wird, werde man nie als solchen anerkennen, fügte Milosevic hinzu.

Zwar ist die jugoslawische Verfassung in unzähligen Fragen bis ins kleinste Detail ausgearbeitet worden, um so einen Ausgleich der Interessen der sechs Republiken zu erreichen, doch in der Frage, was angesichts dieser Krise zu tun ist, gibt die Verfassung von 1974 keine Antwort. Die Gesetzesväter hatten außer acht gelassen, daß es eines Tages zu einer Blockierung der politischen Tätigkeit des obersten Machtgremiums kommen könnte. Man ging stets davon aus, an den Schaltstellen der Macht müßte zumindest in Fragen wie Landesverteidigung und territorale Einheit des Vielvölkerstaates Einvernemen bestehen. Und dies war bis vor kurem auch der Fall. Denn obwohl es seit Jahren im Lande brodelte, gingen selbst noch so dramatische und umstrittene Entscheidungen wie die zur Entsendung von Truppen in den Kosovo vom Staatspräsidium aus. Selbst als in Kroatien und Slowenien demokratisch gewählte Regierungen die Vorherrschaft der Kommunisten im letzten Jahr beendeten, verhielten sich die neuen Demokraten im Staatspräsidium trotz Kontroversen letztlich loyal gegenüber den alten Mächten. Selbst als in Belgrad vor einer Woche Truppen auffuhren, um Milosevic zu stützen, stimmten die anderen Republiken nicht offen gegen den Aufmarsch, sondern enthielten sich der Stimme. Auch bei anderen Konflikten heizten die Führungen der anderen Republiken zwar verbal die Stimmung an, sie suchten aber hinter verschlossenen Türen immer noch nach einem Minimalkonsens.

Dies alles gehört nun der Vergangenheit an, will man den Sonntags- Zeitungen von Ljubiljana bis Titograd trauen. Jetzt bedauert die Presse in mehreren Republiken, daß überall im Lande Truppen, paramilitärische Polizeieinheiten, Reservisten in Armee und den Sicherheitsorganen in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt wurden. Die Medien sprechen voller Bedauern von einer „Libanonisierung“ Jugoslawiens, die jeden Augeblick im Bürgerkrieg münden könnte. Doch gerade die Presse war es, die in den Republiken dienationalen Auseinandersetzungen schürte und zu mancher Eskalation beitrug.

Angesichts dieser Situation ist weder auf offizieller Ebene mit substantiellen Verhandlungen über friedliche Lösungsmöglichkeiten zu rechnen, noch bei den Oppositionellen und Dissidenten von gestern. Zwar gab gestern Vuk Draskovic, jener serbische Oppositionsführer, den Milosevic und Jovic während der Unruhen in Belgrad einfach seiner politischen Immunität beraubten und festnehmen ließen, eine Pressekonferenz, auf der er eine Entpolititsierung der Armee forderte, doch fehlte es auch bei ihm nicht an doppeldeutigen Aussagen. „Unser aller Ziel ist es, Jugoslawien durch die Entwicklung eines demokratischen Serbiens zu befreien“, so Draskovic, der zugleich vorschlug, Neuwahlen so bald wie möglich im ganzen Lande abzuhalten. Denn nach seiner Meinung sitzen in Zagreb und Ljubljana keine Demokraten, sondern „Separatisten“ in den Sesseln der Mehrparteienparlamente. Wen wundert da, daß sich Draskovic die gleiche Kritik gefallen lassen mußte wie die Dogmatiker in der serbische Führung, deren Konfliktstrategie er sich damit im Prinzip angeschlossen hatte.

Wie es nun angesichts dieses einzigartigen Machtvakuums in Jugoslawien weitergehen soll, steht in den Sternen. Die Bundesregierung unter Ante Markovic plädiert unverdrossen für die Demokratisierung, doch auch ihre Macht erweist sich als ausgehöhlt. Dafür geistern die wildesten Gerüchte durch das Land. Augenscheinlich ist in allen Großstädten eine unverhältnismäßig starke Polizeipräsenz zu sehen, angeblich sollen überall militärische Truppenbewegungen stattfinden. Roland Hofwiler