Zivildienern heißt immer auch Job-Killen

■ Kriegsdienstverweigerer dienen bald in ganz Berlin/ Für Wohlfahrtsverbände sind sie oft ein personeller Notstopfen/ Zwangsdienstgegner kritisieren, daß der angebliche »soziale Friedensdienst« professionelle Arbeitsplätze vernichtet

Der erste Ost-Totalverweigerer sitzt im Armeeknast in Essen, den jungen Männern flattert die Erfassungspost ins Haus. Auch die Altfälle, die auf die einst sichere Insel West-Berlin flüchteten, müssen noch ran — zur Strafe bis zum 32. Lebensjahr. Noch traut sich die Bundeswehr nicht, im Westteil Kasernen zu eröffnen — von Soldatenvereidigungen nicht zu reden. Das in Jahrzehnten gewachsene antimilitärische Potential ist zu groß, deshalb wird im Osten verwaltet und kaserniert. Auch Wohlfahrtsverbände und soziale Projekte zeigen noch eine gewisse Zurückhaltung, was den Einsatz von Ersatzdienstleistenden angeht. Aber die Normalität kommt bestimmt. Schließlich hat das Militär hier Tradition, und weltweit soll es ja auch wieder zur Sache gehen, ob mit blauem oder grünem Helm.

Berlin. Der ältere Herr aus Köpenick hatte die Straße vor seinem Haus schon lange nicht mehr gesehen. Altbau, vier Treppen, kein Aufzug — für den Rollstuhlfahrer keine Chance, ohne fremde Hilfe die Wohnung zu verlassen. Erst seit der Zivildienstleistende der Volkssolidarität ihn mehrmals pro Woche besucht und betreut, kommt er wieder regelmäßig nach draußen.

Ein krasses, aber nicht untypisches Beispiel für die wichtige Rolle, die Zivildienstleistende für soziale Einrichtungen in den FNL spielen. Etwa 1.300 arbeiten allein in Ost- Berlin, seit einem Jahr gibt es den Zivildienst dort schon. In wenigen Wochen werden auch in West-Berlin die ersten »Zivis« einberufen — denn wo die Bundeswehr hinkommt, da ist der Zivildienst nicht weit. Er dauert derzeit drei Monate länger als der Waffendienst, und ihn muß, so will es das Wehrrecht, gewöhnlich ableisten, wer »ungedient«, unter 32, für tauglich befunden und dem Barras abgeneigt ist. Vorausgesetzt, sein beim Kreiswehrersatzamt gestellter »Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer nach Artikel 4 (3) des Grundgesetzes« findet vor den zuständigen Beamten Gnade. Immerhin kommen 95% aller Antragsteller durch, seit die umstrittene Gewissensprüfung 1983 durch ein entschärftes schriftliches Verfahren beim Kölner »Bundesamt für den Zivildienst« (BAZ) ersetzt wurde.

Um den Aufbau von Zivildienststellen in der Region kümmert sich seit Januar die neu errichtete Berliner Außenstelle des BAZ. Die 25.000 Zivis aus DDR-Zeiten wurden größtenteils »überführt«. Anfängliche Probleme, wie die mangelnde Information über Rechte und Pflichten der Dienstleistenden, sind, so Amtsleiter Rüdiger Löhle, »inzwischen weitgehend erledigt«. Trotzdem werden nach Löhles Worten kaum alle Stellen im Osten Bestand haben — sie entsprechen nicht immer den strengeren Weststandards, wonach z.B. Zivis nicht mit nichtbehinderten Jugendlichen (!) arbeiten dürfen: aus politischen Gründen, denn die Schutzbefohlenen könnten ja streng ideologisch zum Frieden verhetzt werden. Da die Ex-DDR-Stellen — wie auch die KDV-Anträge der FNL-Bewohner — als separater »Datenbestand Ost« geführt werden, können dorthin auch nur Ostler einberufen werden. Das gleiche gilt für die alte BRD. »Erst in einem halben Jahr«, so Rüdiger Löhle, »können wir beide Bereiche integrieren.«

Etwas gedulden müssen sich auch die Westberliner Sozialeinrichtungen, die bald in den bislang ungewohnten Genuß von Zivildienstplätzen kommen. Zwar bekamen die ersten drei Dienststellen Anfang März den Zuschlag vom BAZ, richtig los geht's aber wohl erst im Herbst. So rechnet Erich Kotnik vom Diakonischen Werk mit Zusagen »erst in einigen Monaten«, zunächst müsse man den Bedarf ermitteln und »die einzelnen Träger informieren«. Das Westberliner Rote Kreuz bereitet ebenfalls erst die Anträge vor, erwartet aber nach den Worten von DRK- Sprecher Billhardt »eine großzügige Bewilligungspraxis seitens des BAZ«. Von dem man sich im übrigen noch etwas im Stich gelassen fühlt. Billhardt: »Der Zivildienst ist für uns totales Neuland, und wir hätten gerne bessere Informationen.« Auch Arbeiterwohlfahrt-Geschäftsführer Reckmann-Fellgiebel konstatiert »ziemliche Verwirrung«.

Dabei profitieren die Wohlfahrtsverbände in Westdeutschland schon lange von den Kriegsdienstverweigerern: Meist ohne ausreichende Ausbildung und rechtlich im bequemen Status von Befehlsempfängern, arbeiten die »Zivis« in den Kernbereichen des Sozialsystems. Da das BAZ den Trägern den (ohnehin mageren) Sold zu großen Teilen erstattet, ist es kein Wunder, daß Zivildienstleistende, obwohl offiziell nur »arbeitsmarktneutral« einsetzbar, mittlerweile zum festen Personalstamm von Wohlfahrtsverbänden und Krankenhäusern gehören, sie dort massiv Kosten einsparen helfen. »Job-Killing« nennt das die »Selbstorganisation der Zivildienstleistenden« und wird durch den Fakt bestätigt, daß es in West-Berlin bisher offenbar auch ohne sie ging.

Entsprechend vorsichtig agieren die Sozialverbände hier bei der Auswahl der Arbeitsfelder. Die Diakonie will sich auf »flankierende Dienste« als Zivi-Einsatzstellen beschränken, und das DRK möchte »erst gar nicht in den Geruch der Verdrängung von Planstellen kommen«. Zivildienstleistende seien »nur als zusätzliche Kräfte« denkbar. Trotzdem ist eine Angleichung an westdeutsche Verhältnisse zu befürchten — etwa daß, so Henrik Schenker von der Gewerkschaft ÖTV, »länger offenstehende Planstellen dann mit Zivildienstleistenden besetzt werden.«

Doch auch ohne Job-Killing ist der Zivildienst kaum der vermeintliche »soziale Friedensdienst«. Dies machten erst am 15. Januar wieder Tausende von Zivis mit einem Streik deutlich, mit dem sie angesichts des Golfkrieges gegen ihre militärische Verplanung protestierten. KDVer dürfen nämlich lediglich den Kriegsdienst mit der Waffe verweigern, können aber im Spannungs- oder Verteidigungsfall beinahe unbeschränkt zwangsverpflichtet werden und sind auch entsprechend eingeplant. Die Berliner »Kampagne gegen die Wehrpflicht« will daher von vornherein nicht das Bild einer »sinnvollen Alternative zum Wehrdienst« aufbauen — sie ruft zur Verweigerung schon der Erfassung und Musterung auf. Kampagnen-Sprecher Christian Herz: »Zivildienst ist Zwangsdienst und Teil militärischer Strukturen, deshalb ist er kein wirkliches Gegenmodell zum Wehrdienst.«

Profanere Probleme hat dagegen eine Branche, die bisher von der Nicht-Wehrpflicht in West-Berlin profitierte: Die privaten »Essen auf Rädern«-Dienste. Bei einem Zivi- Stundenlohn von kaum 2 Mark 50 servieren die Wohlfahrtsverbände wohl unerreichbar kostengünstiger. Markus Ermert