Iphigenie — abgefreyert

■ Achim Freyers Gluck-Inszenierung nun auch in Amsterdam

Manche Künstler halten sich und ihr Werk schon zu Lebzeiten für klassisch. Zu ihnen gehört Achim Freyer, der in den zurückliegenden zwei Dekaden zweifellos für manch illustren Musiktheaterabend sorgte. Seine Bebilderung des Freischütz (Stuttgart 1980) ist in nachdrücklicher Erinnerung und die zu Händels Oratorium Messias an der Deutschen Oper Berlin (von seiner Aufbereitung der Philip Glass- Werke waren wir, wie damals auch in der taz nachzulesen, weniger erbaut).

Freyer, Ende der sechziger Jahre aus der DDR in den Westen gelangt, reüssierte auch hier zunächst als Bühnenbildner (und es gelang ihm, zusammen mit Hans Neugebauer, eine bislang nicht übertroffene Interpretation des Wozzeck von Alban Berg). Christoph Willibald Glucks Iphigénie en Tauride war das erste Werk, an dem Achim Freyer sich als Gesamtkunstwerker versuchte, die Bayerische Staatsoper München 1979 Schauplatz des Unternehmens. Die Staatsoper in Stuttgart übernahm diese Inszenierung. Unlängst tauchte sie, in fast unveränderter Gestalt, in Basel auf. Jetzt beglückt sie die Niederländer — kam als Premiere an die Nederlandse Opera in Amsterdam, und wird von dort nach Rotterdam und Den Haag weiterziehen.

Weil er zu dieser Gluck-Oper „nichts Neues und Weitergehendes mehr zu sagen“ habe, so Achim Freyer in Amsterdam in einer Rede an die internationale Presse, entschloß er sich zur Reproduktion seines Opus1 als regieführender Ausstatter. Leicht sächselnd redete er auf die Journalisten ein — verteidigte sein Konzept der „Parallelhandlung der Bilder“ zum musikalischen Ablauf und attackierte mit deutsch-professoraler Herablassung alle, die Oper aktualisieren wollten und mit realistischen Momenten an historischen Kunstgebilden arbeiteten. Er wolle nicht die Welt widerspiegeln, sondern gerade am Modell dieser Barock-Oper von Gluck die vollständige Künstlichkeit vorführen, die nun gar nichts mit dem Natürlichen zu tun habe. Heftig polemisierte er gegen die „Vortäuschung von Realität“ auf der Opernbühne. Beschwerte sich schließlich, daß das Amsterdamer Opernhaus nicht einmal zur Premiere ausverkauft sei und nicht wenigstens noch 200 Enthusiasten sich die Nase an der gepanzerten Scheibe des Kartenverkaufs plattdrücken. Solches Desinteresse habe er in Deutschland noch nie erlebt.

So etwa müssen die Reden Richard Wagners auf die kritischeren unter seinen Zeitgenossen gewirkt haben. Freyers Auftritt als Theoretiker in der VIP-Lounge von Het Muziektheater war jäh zu Ende, als ein niederländischer Kritiker kurz und entschlossen dazwischenrief: „Wir sind hier in Holland.“ Der Meister trat beleidigt ab — und weiter ging's mit dem naivischen Bilderbogen, den Freyer, da er nun eben bereits „klassisch“ ist, zum Text von Nicolas-Francois Guillard und zu Glucks höchst klassizistischer Musik setzte. Dieser Tonsatz, der anderswo eher als gediegen und der gesamtdramatischen Idee dienstbar, aber nicht durchweg genial wirkt, wurde unter der Leitung des Dirigenten Graeme Jenkins (ansonsten musikalischer Direkter der Glyndebourne Tour Opera) zu erstaunlichem Leben erweckt: Durchaus zwingend, wie die Musik unter Bruch der barocken Opern-Tradition nach kurzer Introduktion zur Sache kommt, die Natur des Gewittersturms nachahmt und aufs Theater bannt.

Das Solisten-Ensemble um die überragende Ellen Shade erwirbt sich allen Respekt und das Nederlands Kamerorkest folgt, in den von der Partitutr gesetzten Grenzen, Graeme Jenkins' Willen zu konsequentem Espressivo. Orest beklagt seinen Verrat an der Natur, erkärt die Blutrache, der die Mutter Klytemnästra zum Opfer fällt, nicht als eine gesellschaftliche Verfehlung, sondern als Sünde wider die Natur. Überhaupt blühen im Libretto die Gedanken Rousseaus — und die Arbeit Glucks strebte, gerade bei den Gesangspartien, nach dem Ideal der Natürlichkeit. Ihre so angemessene, beredte Wiedergabe strafte die Freyer- These von der bloßen Künstlichkeit hörbar Lügen: Die Natur und das Natürliche bleiben, auch wo Kunst nurmehr Kunst sein will, eine Herausforderung. Und gerade im späten 20. Jahrhundert ist die Wahrnehmungsfähigkeit in dieser Hinsicht geschärft.

Das Amsterdamer Publikum, dem ästhetisch Neuen gegenüber aufgeschlossener als die Operngänger sonst in Europa (und das mag von der Traditionslosigkeit des Musiktheaters an der Amstel und dem dort herrschenden Primat der Bildenden Kunst herrühren), feierte die Musiker und bekundete gegenüber Freyers abgestandenem Remake heftigen Unwillen. Die mehr oder minder frei zu einer historischen Oper assoziierten Bild-Tableaus beginnen, ihre Imaginationskraft einzubüßen. Was anderswo in konservativem Milieu als adretter Schein noch goutiert wird, stößt in einem seit langem demokratisch strukturierten Kulturleben auf Skepsis. Achim Freyer mußte, so sehr es ihn erzürnte, gewahr werden, daß man hier in Holland ist. Frieder Reininghaus