Das tote Theater des Todes

Läßt sich die theatralische Erfahrung Tadeusz Kantors weiterführen?  ■ Von Piotr Olszowka

Nicht nur für mich, sondern offenbar für viele Krakauer gilt: amicus Kantor, sed magis amica veritas. Die Mitglieder der Cricot-Truppe scheinen das auch zu begreifen, indem sie Krakau als Spielort für das letzte Stück des Genies von Wielopole meiden. Nicht nur, daß sie Waisenkinder eines Stiefvaters geworden sind, sondern sie müssen auch mit dem schlechten Gewissen leben, sein (und ihr eigenes) verfehltes Werk einem beinahe kritiklosen Publikum zu verkaufen.

Ich möchte nicht falsch verstanden werden: Alle vier großen Theaterwerke Kantors erzählten vom Nichts und waren aus dem Nichts geschaffen. Es ist eine Schöpfung, wenn man aus dem Nichts eine großartige, grenzenlose Erzählung spinnt, es ist aber peinlich, wenn man nichts zu sagen hat und dennoch lange erzählt.

Auch der lebendige Kantor könnte wahrscheinlich dieses letzte Stück, Aujourd'hui c'est mon anniversaire, nicht retten: ein kläglich kitschiges Bühnenbild mit drei großen Bilderrahmen als Fenster zu anderen Wirklichkeiten, einige trivialisierte Objekte und Bio-Objekte (Maschinengewehre, Flugzeug, Mensch mit dem Stuhl integriert) aus den früheren Stücken. Einige der einfachsten Gags, Wiederholungen, Crescendos, Standbilder. Das alles einer ziemlich ausgedachten Geschichte untergeordnet, in die verschiedene historische Gestalten der osteuropäischen Avantgarde integriert sind (Originaltexte von Vsevolod Meyerhold und Jonasz Stern sowie eine in keiner Weise überzeugende Karikatur Maria Jaremas, die — wohlgemerkt — Kantor in den frühen sechziger Jahren mit einem Happening geehrt hatte).

Eine so rücksichtslose Kritik wäre unberechtigt, würde man nicht die höchsten Anforderungen an das Cricot-Theater stellen, die an der Qualität der toten Klasse oder zumindest seiner Tetralogie zu messen sind. Obschon ich mit der Truppe Mitleid habe und die Tragik verstehe, die in der Wahl liegt, eine schlechte Arbeit des Verstorbenen zu zeigen oder das letzte Stück Kantors nicht der Welt zu präsentieren, darf ich gerade wegen einer (vorgetäuschten?) Inkompetenz der hiesigen Kritik und des Berliner Publikums nicht schweigen. Der Rezensent des 'Tagesspiegels‘ entzog sich sehr intelligent jeder Beurteilung, indem er die Besprechung ähnlich einer Wetternachhersage gestaltete. Das Publikum, nach einer einige Sekunden andauernden Pause (Junge, Junge, dachte ich mir, diese Berliner wissen schon Bescheid; von der dritten Reihe aus habe ich noch feststellen können, daß diese Sekunden eine Ewigkeit für manche Darsteller gedauert haben), kennt keine Gnade und will mit dem Beifall nicht aufhören.

Wie ein Erdbeben

Die ungeheure Leistung des am 7. Dezember des vergangenen Jahres verstorbenen Künstlers wurde mit jahrzehntelanger Arbeit im Widerstand gegen alle — Nazi-Besatzer, Sozrealisten, dogmatische Kollegen aus der abstrakten Szene, professionelle Theatermacher, Publikum, Presse, ja gegen eigene Schauspieler — erkämpft. Alles hat er versucht, und immer wollte er an der Spitze der Avantgarde stehen. Als Maler, Bühnenbildner, Regisseur, Happener. Dabei war er immer wieder der erste in Polen, das heißt meistens auch in Osteuropa, der ein Happening, eine Installation, eine Emballage machte. Der Durchbruch gelang ihm jedoch erst 1975 mit Die tote Klasse, die gleichzeitig evolutionär und revolutionär war. Er trug die Erfahrungen seiner früheren Produktionen zusammen und reduzierte sie meisterhaft auf das Wesentliche. Das Neue war vor allem der Tod, der sich als allumfassende Darstellung Kantors eigenen Egos präsentiert. Alles ist Tod, und aus diesem Rohstoff wird ein Plot erzählt, der ebenfalls vom Tod handelt.

Die tote Klasse war wie ein Erdbeben. In Krakau liefen zu der Zeit die besten Theaterproduktionen von Andrzej Wajda und, wichtiger noch, von Konrad Swinarski (im Stary Teatr, nicht einmal fünfzig Meter vom Krzysztofory-Keller, dem Sitz des Cricot, entfernt). Sehr interessante Vorstellungen der Studenten- und Off-Theater wie STU oder Pleonazmus waren zu sehen. Die tote Klasse stieß auf grenzenlose Begeisterung und Verehrung eines wählerischen Publikums. Eine Eintrittskarte zu ergattern, war beinahe unmöglich. Die Vorstellung hatte ausnahmslos Schockwirkung. Fünf Jahre dauerte die Arbeit am nächsten Stück Wielopole, Wielopole. In der inhaltlichen Perspektive eine Weiterentwicklung, war das fast Übermenschliche der toten Klasse allerdings nicht zu übertreffen. Zusammen mit den nächsten Nachträgen zu seinem künstlerischen Lebenslauf: Die Künstler sollen krepieren und Ich kehre nie wieder zurück! kann man von einer Kantor-Tetralogie sprechen. Als Gesamtkunstwerk besitzt sie durchaus Qualität, dessen drei letzten Teile hervorragende Vorstellungen gewesen sind, allerdings mit einem deutlichen Decrescendo.

Bei der Erarbeitung dieser vier Werke ist auch die Ontologie dieses Theaters und die Rolle des Schauspielers festgelegt worden. Der Darsteller und die Puppe sind für Kantor gleichgestellt. (Gegen Mitte der siebziger Jahre fängt ein anderer Meister aus Polen, Leszek Madzik, mit der Gleichsetzung des Schauspielers und der plastischen Elemente des Bühnenbildes an. Seine Ergebnisse sind von denen Kantors unabhängig.) Gleichzeitig ist der Schauspieler durch die dämonische Präsenz Kantors auf der Bühne zu authentischem Handeln und Leben gezwungen, er darf also nicht spielen, er muß sein. Anders aber als beim „dritten Weg“ des Living Theatres, wo der Schauspieler sich selbst spielt (im Unterschied zu Stanislawskis Identifikation mit der gespielten Gestalt; im Unterschied zu Brechts Dualität der Mutter Courage/Helene Weigel), ist der Kantorsche Schauspieler nicht freiwillig, er ist eine Puppe, die auf der Bühne lebt. Das Fehlen von Julian Beck oder Judith Malina würde an der Ontologie des Living Theatres nichts ändern. Das Fehlen Kantors im Cricot sehr wohl. Er ist nicht nur der Platonsche Weltbaumeister dieses Theaters. Vielmehr ist er der Berkeleysche Gott, der nach dem Prinzip esse est percipii allein die Existenz dieser Welt sicherstellen kann. Ohne ihn sind die Mitglieder des Cricot-Theaters wieder freie Menschen und damit Schauspieler geworden, jetzt stellt sich auch heraus, daß sie unter Umständen mäßige oder aber miserable Schauspieler sind (Ewa Janicka!). Das alles hatte überhaupt keine Bedeutung, solange der Herr sie benutzte. Nach seinem (diesmal ärztlich attestierten) Tod sind Kantors Puppen und Schauspieler gleichermaßen mausetot.

Kunst ist Diebstahl

Die von Andrej Woron inszenierten Zimtläden nach einer Erzählung von Bruno Schulz, die seine Truppe „Kreaturentheater“ im Berliner Theater am Ufer präsentiert, dürften inzwischen, nachdem das Stück im Fernsehen gezeigt worden ist, einem ziemlich breiten Publikum bekannt sein. Auch wenn es die offenen Bekenntnisse Andrej Worons zu Kantor nicht gäbe und wenn die formellen Ähnlichkeiten des Bühnenbildes und der Strukturierung des Geschehens als sekundär eingestuft würden, gibt es wichtige Zusammenhänge zwischen den beiden Künstlern. Kantors Idee der Puppe als einer dramatis personae kann ohne Die Zimtläden von Bruno Schulz und die dort vorgelegte schöpferische Utopie nicht richtig verstanden werden. Es ist Blasphemie, diese Mobilisierung der Puppen, ein eifersüchtiger Akt einer Kreatur gegen die Alleinherrschaft Gottes. Dabei sind die Puppen weder bei Schulz noch bei Kantor pygmalionischer (Galatea) bzw. sogar pinocchioartiger Natur. Es geht um keine Verbesserung, um keinen Akt der optimistischen Lebensschenkung. Es geht um die Macht. So auch Woron mit seinen Kreaturen, die allerdings Schauspieler bleiben dürfen, weil sie durch das Kantorsche Ritual des Todes nicht durchmüssen.

Eine andere wichtige Verbindung zu beiden stellt Stanislaw Ignacy Witkiewicz (Witkacy) dar. Witkacy war ein Philosoph (biologischer Monadist), eigenwilliger Maler (Mitbegründer der Formisten-Gruppe), Autor exzentrischer Romane (622 upadki Bunga), Fotokünstler, vor allem aber Verkünder des grausamen Unterganges der Kunst und Zivilisation in einer totalitären Massengesellschaft, den er in seinen zahlreichen Dramen höhnisch darstellt. Der Tod Witkacys eröffnete die Reihe, die auf der Generalprobe von Heute ist mein Geburtstag mit dem Tod Tadeusz Kantors endete. Am 17.9.1939, dem Tag der von ihm vorgeahnten Katastrophe, nimmt sich Witkacy, von der NKWD in den Tod getrieben, das Leben. Auch im östlichen Galizien wird Bruno Schulz drei Jahre später, bereits von der Gestapo, auf der Straße erschossen. Tadeusz Kantor wurde vom Krieg verschont, die Zeche zahlte sein Vater. Die Geschichte dieses Todes erzählt Wielopole, Wielopole.

Witkacys Theorie der reinen Form, auch für Bruno Schulz von allerhöchster Bedeutung (weniger Inhalt, mehr Form!) wird für Woron zum Manifest. Kantor hat mehrere Dramen von Witkacy inszeniert, zuletzt Nadobnisie i koczkodany unmittelbar vor der toten Klasse. Zweifelsohne verhalf ihm Witkacys kompromißlose Ästhetik beim Durchbruch zu einem von der Anekdote freien Theater. Und noch eins: Die unerträgliche Intellektualität des Theaters wird gleichermaßen von Kantor und Woron abgelehnt.

Hier enden allerdings die Parallelen. Worons Lebendigkeit und Farbe, seine schöne Musik, das Schau-Spiel seiner SchauspielerInnen, perfektes, überzogenes Make-up und vor allem eine Sinnlichkeit, die den Toten nicht zustünde, stehen im krassen Gegensatz zum Kantorschen Theater. Diese grelle Oberfläche, zusammen mit den vielen Zitaten und Ähnlichkeiten, haben mich zunächst erschreckt und erschienen mir epigonenhaft.

Die Kunst ist Diebstahl und Plagiat, Nachahmung und Persiflage, nicht erst seit Rap-Musik oder postmoderner Architektur. Mit dem Theater von Tadeusz Kantor ist es aber grundsätzlich anders. Hier wird keine objektive Methode entwickelt, die dann später — wie bei Grotowskis Laboratorium der Fall — von anderen benutzt, erweitert, perfektioniert werden könnte (Odin Teatret, Gardzienice). Mit dem letzten Stück des exzentrischen Krakauers ist es klarer denn je geworden. Wenn einer aber eigene Arbeit so ehrlich meint wie Andrzej Woron und wie er von seinem Theater besessen, ja nach ihm verrückt ist, braucht er keine Vorwürfe der Nachahmung oder des Plagiats zu fürchten (schon gar nicht bei seinem Debüt). Das ist der einzig ehrliche Weg, die Erfahrung Kantors weiterzuentwickeln.

Am 6.2. erschien auf diesen Seiten eine Kritik von Kai Voigtländer, die sich ausschließlich — und begeistert — mit Kantors theatralischem Vermächtnis beschäftigte.