Rehabilitation der Stasi-Opfer: Es passiert gar nichts

Freisprechung von Stasi-Opfern schleppend/ Erich Loest fordert rechtliche Instanzen und ein wissenschaftliches Institut für historiographische Auswertung  ■ Von Matthias Hoenig

Hamburg. Von den schätzungsweise 40.000 bis 60.000 (oft politisch motivierten) Unrechtsurteilen, die in der früheren DDR verhängt wurden, sind nach Erkenntnissen des Leipziger Autors Erich Loest lediglich 30 bis maximal 40 aufgehoben worden. Die Freisprüche seien Voraussetzung für Entschädigungsansprüche und für die Anrechnung von Haftstrafen auf die Rente („wer nicht freigesprochen ist, verliert diese Jahre für die Rente“). Doch nach der Auflösung der zuständigen Gerichte in der DDR hätten sich bislang noch keine neuen Gerichte gebildet. „Es passiert gar nichts“, meinte Loest und forderte, umgehend rechtliche Instanzen zu schaffen, um die Opfer „Fall für Fall freizusprechen“.

Von Entschädigung könne dann noch gar nicht die Rede sein, denn im „hastigen Einigungsvertrag“ seien Fragen der Wiedergutmachung „einfach hinten runtergefallen“, sagte Loest und verwies auf entsprechende Äußerungen aus dem Bundesjustizministerium ihm gegenüber. „Es gibt keine Rechtsgrundlage...und außerdem kein Geld“, resümierte der Schriftsteller, der seinen Fall als Beispiel nannte: Seine mit siebeneinhalb Jahren Haft verbundene Verurteilung wegen Staatsverrats aus dem Jahre 1958 wurde vom Obersten Gericht der DDR im April 1990 bei Zuerkennung einer Entschädigung aufgehoben. Doch bislang sei nichts geschehen, abgesehen von einem Schreiben, daß es jetzt einen Wiedergutmachungssenat gebe. „Wie geht es Ihnen denn? Schicken Sie uns mal Ihr Material, damit wir etwas haben“, zitierte Loest einen Mitarbeiter aus dem Bundesjustizministerium.

Der Autor betonte, daß es sich bei den bestenfalls 40 Freisprüchen der DDR-Gerichte vor ihrer Auflösung ausschließlich um die Revidierung spektakulärer politischer Prozesse handelte, etwa gegen Walter Janka, Wolfgang Harich oder Rudolf Bahro: „Das waren alles im Grunde genommen erweiterte Parteiverfahren, das waren fast alles Genossen.“ Abgesehen von diesen „Paradedingen“ nach dem Motto „Wir tun was — und schon war Schluß“ sei noch gar nicht angefangen worden, andere Opfer wie etwa Zeugen Jehovas oder in den 50er Jahren verurteilte Liberaldemokraten zu rehabilitieren. „Die Ärmsten sind die, die unter sowjetischem Recht interniert waren“, da die Akten in diesen Fällen fehlten.

Zur Rehabilitierung von Opfern und für mögliche Entschädigungen sollten Stasi-Akten den Betroffenen zugänglich gemacht werden, forderte Loest angesichts der immer noch fehlenden gesetzlichen Regelung für den Umgang mit diesen Dokumenten. Des innenpolitischen Friedens und der Gerechtigkeit willen müsse Schritt für Schritt die Möglichkeit geschaffen werden, den Leuten, die betroffen sind, Einsicht zu gewähren. Die Akten sollten nach Loests Vorstellungen zur Aufklärung von Straftaten, zur Aufhebung von Unrechtsurteilen und zur Sicherung von sozialen Ansprüchen herangezogen werden, nicht aber um Neugier zu befriedigen, etwa nach der Devise: „Wer war bei uns der Spitzel im Betrieb? Das geht nicht!“ Umgekehrt könne jemand, der zwei Jahre bei der Stasi ohne Prozeß inhaftiert war, diese Zeit nur mit deren Akten nachweisen.

„...kein Grundbuch, keine Richter“

Außerdem sollten nach Auffassung des Schriftstellers Historiker und Journalisten gezielt Zugang zu den Dokumenten erhalten, damit „aufgrund der Akten begonnen werden kann, DDR-Geschichte zu schreiben“. „Sagen wir einmal 17. Juni 1953 in Leipzig: Waren das drei Tote oder acht Tote...? Oder die Sprengung der aus dem 13. Jahrhundert stammenden Leipziger Universitätskirche im Mai 1968: Wer waren die Hintermänner, wie ist das gewesen?“ Dabei unterstützte Loest die Idee, ein wissenschaftliches Institut für die historiographische Auswertung zu gründen.

Ein besonderes Problem im Umgang mit den Akten sieht Loest darin, was den Bespitzelten gehört. Acht Aktenordner mit Kopien von seinen Briefen, darunter auch Liebesbriefe, und einigen abgefangenen Originalschreiben betrachtet der Autor als „mein Eigentum“, das er zurückhaben will. Auf ein entsprechendes Schreiben vom November hat der Sonderbeauftragte der Bundesregierung, Joachim Gauck, noch nicht reagiert. Außerdem habe er Gauck noch die Frage gestellt, ob nicht die zahlreichen Abhörprotokolle — per Telefon und per „Wanze“ — ihm nicht auch gehörten. „Dies ist eine Frage..., die Briefe sind mein Eigentum.“

Kritik übte der Autor auch an der seiner Ansicht nach viel zu lange ungeklärten Eigentumsfrage in den neuen Bundesländern. „Das hat ein Jahr auf der Strecke gestanden“, sagte Loest. So seien in der Leipziger Innenstadt alle freien Flächen an Westfirmen vergeben, doch „sie können nicht anfangen, weil die Eigentumsfrage nicht geklärt ist. Es gibt kein Grundbuch, es gibt keine Richter, es gibt gar nichts. Es könnte nun, wenn nichts geschieht, noch zehn Jahre so weitergehen.“ Als eine der Ursachen für die wirtschaftliche Misere in den neuen Ländern nannte er auch den Geldumtausch bei der Währungsunion, der in dieser Weise ein „Wahnwitz“ gewesen sei. Während im Wirtschaftsleben die Verrechungseinheit D-Mark zu DDR- Mark 1:4,5 gewesen sei, habe die Bundesregierung, „um die Wahl zu gewinnen“, im Schnitt 1:1,6 getauscht. „Das ist eine Aufwertung um 300 Prozent, da muß der Außenhandel — sowohl nach Osten als nach Westen — in Minutenschnelle zusammenbrechen.“ dpa