Der weiblich bewegte Raum

■ Die Architektin Lucy Hillebrand im Verborgenen Museum

Die neueste Idee der Architektin Lucy Hillebrand, ihre sogenannte »Nachtstadt« (1991) für die EXPO 2000 in Hannover, ist Diogenes und seiner Tonne gewidmet. Auf einem See, so stellt sich die Architektin vor, schwimmen beweglich miteinander verbundene Tonnen. Durchgehendes Oberlicht gibt dem jeweiligen Rundraum eine Atmosphäre der Ruhe. Gestreßte EXPO-Besucher könnten sich zur Entspannung in eine Tonne legen. Lucy Hillebrands Modell der »Nachtstadt« ist Teil einer kleinen Retrospektive, mit der das »Verborgene Museum« die 85jährige Architektin ehrt.

Das Tonnennetz bildet einen schwimmenden Gesamtraum, der sich baulich als »Gegenwelt« von den Superlativen möglicher High-Tech-Architekturen auf der Messe abhebt und diese ironisch kritisieren will. Mit der Retrospektive »Raum-Spiel. Spielräume« erinnert »Das Verborgene Museum« nicht nur an das Oeuvre der ersten freischaffenden Architektin in Deutschland, sondern stellt gleichzeitig eine Frau vor, die in einem von Männern dominierten Metier mit großen öffentlichen Bauaufgaben Architekturgeschichte gemacht hat — und weiter macht.

Die 1906 in Mainz geborene Lucy Hillebrand ließ sich nach ihrem Studium in Köln 1928 als freie Architektin in Frankfurt/Main nieder, jedoch nicht um im Stadtplanungsamt Ernst Mays handliche Kücheneinrichtungen zu konzipieren, wie es die österreichische Architektin Grete Schütte- Lihotzky tat, sondern mit dem Status beruflicher Unabhängigkeit. »Ich bin freischaffende Architektin«, beschrieb sie ihren Werdegang. »Ich sehe mein Aufgabengebiet darin, Grundformen des Bauens zu finden, die dem Inhalt unserer heutigen Bauaufgaben wahrhaft entsprechen, die gestellte Baulösung auf einer Ebene zu verwirklichen. Am Gedankengut des Bauhauses habe ich in den Arbeitskreisen des ‘Neuen Frankfurt‚ zur Zeit Mays mitgearbeitet.«

Die avantgardistischen Experimente des »Neuen Bauens« sind, trotz der Distanz zur Frankfurter Bauszene, in den frühen Arbeiten Lucy Hillebrands formbildend. Ihre Tankstelle »Dapolin« mit Tankwartwohnung (1928/29) ist ein Bau voller Sachlichkeit und Schönheit, bei dem die glatte Fassade, das flache Dach, die ineinander verschobenen Kuben die Funktionalität des Hauses in seiner Architektur nach außen spiegelt. Architektur erscheint bei Lucy Hillebrand als die stufenweise — noch tastende — Erschließung von Räumen. Auch beim »Sprendlinger Wohnhaus« (1930), einer zweigeschossigen Villa, sind noch die Formeln der klassischen Moderne und die Nähe zu Ernst May und den anarchischen Raum-Collagen ihres Freundes Kurt Schwitters deutlich zu spüren. Einfachheit, Funktionalität und Ablesbarkeit der inneren Ordnung am Bau bilden die Hauptkriterien ihrer Arbeit.

Es gelingt Lucy Hillebrand — zuerst im Detail etwa bei schwungvoll geformten Treppenanlagen, später in der Komposition der einzelnen Baukörper — eine eigene Architektursprache zu finden, die die Bewegung als Gestaltungsprinzip des Grund- und Aufrisses hat. Ihre Bauten gleichen »Raumfiguren, die wie eingefrorene Pirouetten oder raumgreifende Tanzfiguren den Betrachter locken«, kommentiert Karin Wilhelm im Katalog die Schwingungen der Räume der Architektin. Mit der modernen Formensprache am Baukörper und den Kurvaturen für die Binnenstruktur setzt sich Lucy Hillebrand auch in der Zeit des Faschismus in Deutschland mutig durch. Das »Haus Bensen« aus dem Jahr 1936 ist zwar mit einem Satteldach gedeckt, allein die asymmetrisch kombinierten Einzelkuben zitieren die Moderne ebenso wie das 1937 geplante Wohnhaus-Atelier »Bau-Bild«, ein flachgedeckter schmuckloser zweigeschossiger Bau, dessen innere Un-Ordnung an der provokanten Fassade ablesbar ist. 1938 lehnt Lucy Hillebrand auch die von den Nazi-Ideologen geforderte Selbsteinschränkung der Frau im Beruf ab. Anstatt sich auf das private Heim, den Herd und die Küche zu beschränken, schreibt sie im 'Göttinger Tageblatt‘ in der Replik Die Frau am Schreibtisch: »Entschieden zurückzuweisen ist die Ansicht, daß die Außenarchitektur Aufgabe des Mannes bleiben müsse, während die Frau sich auf die Heimgestaltung beschränken soll. Es ist nicht einzusehen, warum die ‘weibliche Architektin‚ keine Häuser bauen soll [...].«

Nach dem Zweiten Weltkrieg eröffnet Lucy Hillebrand ihr Atelier in Göttingen, wohin sie mit ihrem zweiten Mann, dem Soziologen Erich Gerlach, übersiedelte. Sie arbeitet an der Entwicklung räumlicher Elemente für den Schul- und Museumsbau, wobei sich zeigt, daß ihr Planungsprozeß immer mehr einer Suchbewegung nach Raumerlebnissen gleicht. Der Entwurf für ein »Haus der Jugend« (1946) stellt einen getreppten Baukörper dar, der, wie man/frau an der »Konstruktionszeichnung« aus dem Jahre 1950 sehen kann, die Architektur auflöst in einzelne strukturelle Glieder. Das »Jugendhaus« bildet kein abgeschlossenes Ganzes mehr in seiner Architektur, sondern ähnelt so einer Stufenanlage, die den Bau geradezu steigert. Die Grundstruktur der ausgeführten Großprojekte Hillebrands — ihre »Volksschule in Osterholz-Scharmbeck« (1948), die Jugendherberge »Torfhaus« (1953) oder das »Kinderdorf Uslar« von 1970 — ist ein vielgliedriger Grundriß, der in die Natur ausgreift. Ein System von Räumen, man könnte auch sagen unabhängigen Bauteilen, gruppiert sich baulich um einen Schwerpunkt, das wie etwa beim Kinderdorf die Figur von Kindern, die beim Spiel im Kreis stehen, nachstellt.

Wie komplexe Bienenwaben muten die späten pavillonartigen Bauten Lucy Hillebrands an. Immer neue Raumstrukturen werden gebildet. Die aufeinander bezogenen Bauteile gleichen in ihrer differenzierten Vielfältigkeit schnittigen antropomorphen Wesen. In den Bauten scheinen Kräfte am Werk, die die Mauern von innen nach außen drücken. Hier geht es in die Höhe, da in die Kurve und dort duckt sich der Bau, ohne daß die Kuben hart aufeinanderstoßen wie noch in den zwanziger Jahren. Das Prinzip des bewegten Raums hat Lucy Hillebrand bei ihrer »Kirche auf Langeoog« (1960) vielleicht am Schönsten verwirklicht. Die geschwungen Linien treten dort in einen Dialog mit der Natur. Der Kirchengrundriß bildet einen Halbkreis und paßt sich damit der welligen Dünenlandschaft an, während sich der Glockenturm wie ein Schiffsbug gegen das Meer stemmt. Gleichzeitig sind Altar und Ausstattung im Innern nur angedeutet, so daß für den Besucher-Raum eine Atmosphäre der Stille und Konzentration entsteht, die bis heute maßgeblich für die großen Bauprojekte der Architektin geblieben ist. rola

Die Ausstellung ist bis zum 28. April im Verborgenen Museum zu sehen. Do. und Fr. 15-19 Uhr, Sa. und So. 12-16 Uhr. Es erscheint ein Katalog. Am Mittwoch, den 17. April findet um 19 Uhr ein Podiumsgespräch mit Lucy Hillebrand dortselbst statt.