Im Kochtopf der Kannibalen

Das Tropenmuseum in Amsterdam packt aus  ■ Von Robert Schumacher

Es ist die erste Ausstellung seit Jahren, die keine Menschen in aufwendig inszenierten Alltagssituationen zeigt: weder Frauen, die mit Tonkrügen auf dem Kopf das Wasser zur mittlerweile wellblechgedeckten Rundhütte tragen, noch Kinder, die auf meisterlich bestickten Decken eine ärmliche Ernte von Yamswurzeln auf dem lokalen Markt feilbieten. Das Tonband schweigt, und es riecht nach nichts als nach Museum: Das Museum stellt sich aus.

Das Tropenmuseum packt aus, so lautet der Titel einer Ausstellung des Amsterdamer Tropenmuseums, das zu den besten völkerkundlichen Museen überhaupt gezählt werden muß. Ergebnis der Exposition von Stücken aus verschiedenen Sammlungsepochen ist eine Analyse des Diskurses der Ersten Welt über die Dritte Welt seit etwa 1860. Oder: Was wollten wir früher von den Leuten aus den Tropen und was wollen wir heute von ihnen? Ein guter Teil der Ausstellungsstücke ist aus heutiger Perspektive an sich wertlos geworden, interessant eben nur in der Hinsicht, daß sie etwas über unseren Blick auf die Länder nahe des Äquators sagen. Andere sind im Lauf der Zeit schlichtweg zu Kuriositäten geworden, so das Indiaantje op sterk water: ein in Spiritus eingelegter Fötus aus Surinam mit Baströckchen und Federschmuck, der einer längst aufgegebenen physisch-anthropologischen Sammlung angehört.

Kolonialmuseum

1864 trägt Frederik van Eeden das erste Objekt der Sammlung, einen Löffel aus lackiertem Holz und Kokosnußschale, in das Register ein. Das Museum hieß damals Kolonialmuseum und beschäftigte sich ausschließlich mit den niederländischen Kolonien. Das waren damals in „Ostindien“ Sumatra, Java und die Molukken, in „Westindien“ Surinam und einige kleine Antilleninseln.

Thema war hauptsächlich die koloniale Inwertsetzung (später nannte man das Ausbeutung). Es ging dabei vor allem um die Förderung von Handel, Anbau und Verarbeitung tropischer Agrarprodukte. Jede Menge in Formalin und Alkohol eingelegte Zuckerrohrstücke, Kakaobohnen, Sisal- und Kopraproben verschiedenster Provenienzen sowie Modelle von simplen Zuckerraffinerien und Instrumenten zur Kautschukgewinnung zeugen in den älteren Teilen der Sammlung von dieser Periode. Über die Sammlung hinaus errichtete man sogar eigene Laboratorien zur chemischen und mechanischen Analyse und gab die neuen Erkenntnisse an die Tropenpflanzer in den Kolonien weiter. Das Museum selbst zerfiel in drei Abteilungen: Tropenprodukte, Tropenhygiene und dann erst Völkerkunde.

„Wilde“ im Zoo?

Später erst geriet das ethnographische Interesse mehr in den Vordergrund. Dies vor allem, als das Museum 1910 seine Sammlung mit derjenigen des Amsterdamer Zoos vereinigte, der in konsequenter Auslegung der darwinistischen Theorie den Menschen als höchstentwickeltes Tier und damit als Forschungsgegenstand der Zoologie betrachtete. Diese Haltung beschränkte sich bezeichnenderweise jedoch auf die „Naturvölker“, zu denen der Zoo eine umfangreiche völkerkundliche Sammlung besaß. Die absurd anmutende Idee, menschliche Kultur im Zoo darzustellen, war übrigens so einmalig nicht. Der Hamburger Tierhändler und spätere Zoodirektor Hagenbeck veranstaltete in den achtziger Jahren gemischte Tier- und Völkerschauen. So gastierte er z.B. 1884 mit 67 Ceylonesen und 25 Elefanten in zahlreichen europäischen Städten.

Ethnographica wurden zu dieser Zeit hauptsächlich unter dem Aspekt der „primitiven“ Kunstfertigkeit ausgestellt. Daneben erfreuten sich Speere, Blasrohre, Schilde und Keulen sowie Waffen jeglicher Art einer großen Beliebtheit. Handelsreisende, Kolonialbeamte und vor allem Missionare, die ja oft im engsten Kontakt zu den „heidnischen Stämmen“ standen, sammelten eine Vielzahl davon. Neben den üblichen Akquisitionsformen von Kauf und Raub hatten die Missionare noch eine andere Methode: Sie tauschten in mehr oder weniger freiwilligen Aktionen christliche Symbole wie Kruzifixe und Marienbilder gegen „animistische Fetische“ ein.

Aus solch diversen Quellen gespeist, war das damalige Museum ein veritables Raritätenkabinett. Man ordnete die Objekte bestenfalls regional, oft aber auch nur nach äußerer Ähnlichkeit. An den Objekten interessierte hauptsächlich das Material und die Herstellungstechnik. Wie um zu bestätigen, daß es sich um eine Art Kriegsbeute handelte, wurden oft Dutzende nahezu identischer Pfeilspitzen oder Amulette ausgestellt. Nur in geringem Maße versuchte man, die ausgestellten Objekte in einen kulturellen Kontext zu stellen. Die im Besucher ausgelöste Reaktion war hauptsächlich exotisches Staunen. Diese Art der Darstellung mußte fast zwangsläufig einen Zweifel an der Rationalität und inneren Logik fremder Kulturen aufkommen lassen, so daß es nur folgerichtig erschien, diesen Kreaturen die Segnungen der westlichen Zivilisation zu vermitteln, ob sie nun wollten oder nicht.

Von der Agrikultur zur Kultur

1949 — Indonesien wird endgültig unabhängig — hat sich das Konzept des Kolonialmuseums überlebt. Es nennt sich fortan Tropenmuseum und verschreibt sich der Darstellung aller tropischen und subtropischen Kulturen. Gleichzeitig setzte sich auch die Tendenz durch, vermehrt Alltagskultur zu sammeln: stellte man doch fest, daß der allergrößte Teil der Objekte, die das Museum besaß, aus den „sonntäglichen“ Sphären der betreffenden Kulturen stammte.

Plastik im Dschungel

Seit den siebziger Jahren gibt es im Amsterdamer Tropenmuseum drei Hauptentwicklungsstränge: zum ersten die Darstellung von moderner Alltagskultur, zum zweiten den direkten Vergleich verschiedener Kulturen, und zum dritten die Vermittlung der hierarchischen Beziehungen zwischen uns und den tropischen Ländern. All diese Entwicklungen existieren in deutschen ethnologischen Museen bestenfalls im Ansatz.

Zunächst wich man von dem Gedanken ab, fremde Kulturen nur in einem gedachten Naturzustand darzustellen und alle Abweichungen davon als dekadente Erscheinungen einer Kultur in Auflösung zu betrachten. Statt dessen suchte man nach Gegenständen, die Kulturwandel darstellen konnten. Ausgestellt wurden jetzt auch industrielle Produkte oder lokale Neuentwicklungen aus dem Abfall westlicher Waren. Schuhe aus abgefahrenen Autoreifen, Aluminiumkessel aus geschmolzenen Motorblöcken, Blechspielzeug aus bunten Trockenmilchdosen oder Öllampen aus durchgebrannten Glühbirnen standen plötzlich in den Vitrinen. Nein, falsch — nicht in Vitrinen, die wurden gleich mit abgeschafft. Die Objekte wurden gezielt eingesetzt, um eine Geschichte zu erzählen oder eine bestimmte Atmosphäre zu vermitteln. Ganze Dorfstraßen oder Slumhütten wurden aufgebaut, inklusive Marktstand, Rikschafahrer, Geräuschkulisse und Nelkenduft. Dazu an jeder Ecke Filme und Filmchen. Mittlerweile, so Henk Gortzen, Direktor des Tropenmuseums, sei man vom „audiovisuellen overkill“ abgekommen. Lieber eine stilisierte als eine pseudonaturalistische Darstellung, sagt er, schließlich sei man ein Museum.

Vom Totem zum Lifestyle

Zudem setze man es sich zum Ziel, ein relativistisches Weltbild zu vermitteln. In direktem Vergleich stellte man kulturelle Lösungen für allgemeinmenschliche Bedürfnisse wie etwa Ernährung, Behausung oder medizinische Versorgung gegenüber. Eine holländische Küche mit Gasherd, Spülmaschine und abgepackten Nahrungsmitteln steht neben einer afrikanischen mit Maisstampfer, Tonkrügen und offenem Feuer und einer indischen, vollgestopft mit taiwanesischem Plastikgeschirr und japanischem Ventilator. Produkte westlicher Pharmakonzerne stehen neben der Kräutersammlung eines ostafrikanischen Heilers und einer kompletten traditionell-chinesischen Apotheke.

In diese Phase fällt auch die Ausstellung Vom Totem zum Lifestyle. Deren Anliegen war es, das Verlangen aller Menschen nach Gruppenidentifikation darzustellen: gruppierte sich ein Clan um das Totem des Bären, identifizierten sich unsere in einer autoritären Umgebung lebenden Eltern stark mit säkularen Idolen, seien es so harmlose wie Freud oder so gefährliche wie Hitler. In der heutigen westlichen Welt — so die These — bedeutet Identifikation in zunehmendem Maße ein spezifisches Konsummuster. Der Einzelne grenzt sich durch jeweils bestimmte Kleidung, Schallplatten, Wohnungseinrichtungen, Autos sowie ideologische und moralische Moden vom anderen ab und erwirbt sich so Identität in homöopathischen Dosen. Das tragische Element dieser Sorte von Identifikation ist, daß die Gruppenzugehörigkeit lediglich abstrakt bleibt und nicht notwendig zu Kontakten zwischen den Adepten der jeweiligen Lebensstile führt.

Die immanente Gefahr solch relativierender Darstellung, die im Prinzip alle Kulturen gleichwertig nebeneinander stellt, ist es, ein romantisches Bild von intakten Lebensbedingungen in den Tropen zu zeichnen. Um dieser Gefahr zu entgehen, entwickelte man in den siebziger Jahren ein drittes Hauptmotiv: die Darstellung der ungleichen Welthandelsbedingungen und ihrer Ursachen in der kolonialen Aneignung ganzer Kontinente durch die Europäer. Auch der anti(neo)koloniale Widerstandskampf wird im Museum thematisiert.

Nichts als Projektionen?

Kulturwandel und gegenseitige Beeinflussung sollen in den neunziger Jahren im Vordergrund stehen. Die Attitüde unserer eigenen Kultur gegenüber den anderen ist ein weiterer wichtiger Aspekt, um den es im Prinzip auch in der aktuellen Ausstellung geht. Hält man sich in einem ethnologischen Museum nicht in Wirklichkeit nur den Spiegel vor?

Zunächst bekämpfte und bekehrte man die heidnischen und kriegerischen Wilden, also wurden ihre Waffen und ihre „Götzenbilder“ ausgestellt. Dann handelte man mit ihnen und beutete die natürlichen Ressourcen ihrer Länder aus; ihre handwerklichen Erzeugnisse und die Agrartechniken interessierten die Museen. Aus nur zum kleineren Teil uneigennützigen Motiven versuchte man die Tropenbewohner seit ihrer politischen Unabhängigkeit wirtschaftlich und kulturell nach westlichem Vorbild zu entwickeln.

Jetzt, da diese Stragegie ganz offensichtlich gescheitert ist, besinnt man sich wieder auf die Kultur. Diese erscheint den Mitgliedern der immer einheitlicher werdenden euroamerikanischen Welt plötzlich als wichtige Ressource, mittels derer sich ihr eigenes, als entfremdet erlebtes Dasein zumindest bunt ausstaffieren läßt. Nicht zuletzt benutzte man die Tropenbewohner über die Jahrhunderte hinweg als Projektionsfläche für gesellschaftliche Ideale oder verleugnete eigene Eigenschaften. Der Beispiele gibt es viele: seien es die paradiesisch und sorgenfrei lebenden gauguinschen Tahitianer(innen), die herrschaftsfrei organisierten Bergstämme mit praktizierter freier Liebe oder die mitleidslosen Kannibalen, die die wahre, machiavellistische Natur des Menschen belegen sollen. In all diesen Fällen steht die Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur im Vordergrund, die anderen interessieren dabei nur am Rande.

Also stellt man heute hauptsächlich die europäische Wahrnehmung der Fremden dar. Bestes Beispiel ist die erst kürzlich zu Ende gegangene Ausstellung Wit over Zwart — Weiß über Schwarz —, eine auch ästhetisch äußerst gelungene Darstellung von Negrophilia. Anthropologische Rassentableaus, Nickmohren der Missionsgesellschaften, die sich nach Einwurf einer Münze verneigen, und Comics, in denen ein fetter weißer Tourist im Kochtopf der Kannibalen schwitzt, verdeutlichen die ganze Palette von wissenschaftlichen und populären Klischees über den Schwarzen.

Die aktuelle Ausstellung Het Tropenmuseum pakt uit mit ihren sparsam kommentierten Objekten aus den verschiedenen Sammlungsepochen vermittelt einen interessanten und selbstironischen Einblick in die Beziehungen des Nordens zu den Tropen, die, das läßt sich hier gut nachvollziehen, hauptsächlich durch ein absolutes Machtgefälle charakterisiert waren und sind.

Die Ausstellung läuft noch bis zum 11. August und ist täglich, auch montags, geöffnet.