Gebet und Schwert oder wilde Demokratie

■ Eine arabische Antwort auf Enzensberger vom Lyriker und Literaturkritiker „Adonis“—ein Vorabdruck aus der neuen 'Lettre International‘

Nichts von dem, was in letzter Zeit auf arabischem Boden vorgefallen ist, sollte uns überraschen. Was nämlich jetzt so viel Aufsehen erregt, ist in dem einen oder anderen Land, mit mehr oder weniger deutlichen Nuancen, schon lange — seit Ende des Zweiten Weltkrieges und der „Befreiung“ der Araber vom Westen — stillschweigend geschehen. Überraschen sollte ebensowenig, daß sich die Parteinahme — und ihre Konsequenzen — gegen einen bestimmten Staat mit der Waffe internationaler Legitimität wappnet, und das mit arabischer Unterstützung; überraschen sollte auch nicht, daß die Konfrontation die Form eines Krieges zwischen Regimen und Staaten annimmt im Interesse anderer Regime und anderer Staaten, und schließlich, daß der Mensch auf arabischem Boden, täglich unterdrückt und vertrieben, eingesperrt oder ermordet, dieser Legitimität fremd gegenübersteht, weil er seiner Rechte und Freiheiten beraubt ist, so als wäre er nur ein Insekt oder würde gar nicht existieren. Die Golfkrise und der aus ihr hervorgegangene Krieg haben eine Debatte im Westen ausgelöst, die — und zwar nicht nur seitens der Araber, sondern auch von seiten des Westens — ein neues Nachdenken erfordert über die Natur der Beziehungen, die sie miteinander unterhalten, und über den Dialog, den solche Beziehungen bedingen.

Unlängst habe ich einen Artikel gelesen, der die Debatte auf einer beinahe mythischen Ebene führt — er stammt von dem deutschen Dichter Hans Magnus Enzensberger. Ich habe nicht die Absicht, diesen Artikel bis ins einzelne zu analysieren. Das würde uns zu weit von dem eigentlichen Thema entfernen. Ich möchte mich darauf beschränken, einiges zu den Vorstellungen anzumerken, die in der weiter oben angesprochenen Debatte zum Ausdruck kommen. Daß Saddam Hussein ein Diktator ist, für den der Mensch und seine Freiheit nichts zählen — und das unterscheidet ihn nicht von anderen Diktatoren —, ist eine unbestreitbare Tatsache. Die Mehrzahl der arabischen Intellektuellen ist sich dessen bewußt und bekämpft ihn, seit er an die Macht gekommen ist.

Warum aber hat es so lange gedauert, bis auch der Westen diese Wahrheit entdeckt hat (obwohl sie doch in der Presse zu lesen war), insbesondere die Mehrzahl seiner Schriftsteller? Warum hat das Gewissen des Westens geschwiegen angesichts der individuellen und kollektiven Massaker, die von dem Diktator an seinem Volk begangen worden sind? Warum hat es sich nicht zu Wort gemeldet, um ihn für diesen Krieg zu verurteilen, den er gegen den Iran geführt hat, der einer Million Menschen das Leben gekostet und nur Leid und Zerstörung gebracht hat? Und warum hat ihn der Westen weiterhin unterstützt, obwohl doch bekannt war, daß er Giftgas gegen sein Volk eingesetzt hat? Wer von den Schriftstellern des Westens hatte denn die Weitsicht und den Mut, diese Unterstützung anzuprangern? Warum hat ihm der Westen das Recht und die Mittel verschafft, seine Vorhaben zu verwirklichen, hat ihn sogar beinahe zum Helden gemacht? Stießen seine Machenschaften deshalb auf solche Zustimmung, fanden sie deshalb so viel Lob, weil sie den Wünschen und der Politik des Westens entsprachen? Oder gibt es etwa noch andere Gründe, die nur die bedeutenden Experten arabischer Politik kennen?

Die Verteidigung der Menschenrechte ist ein Grundprinzip, auf dem jede Demokratie basiert. Danken wir dem Westen für jede Gelegenheit, bei der er diese Rechte verteidigt hat, aber wir dürfen dabei auch nicht vergessen, daß das Ethos dieses Prinzips unteilbar ist, also keine Unterschiede zwischen diesem und jenem Volk gemacht werden dürfen, zwischen diesem und jenem Menschen. Andernfalls verfälscht man es in seiner Zielsetzung, es wird zu einem Privileg, das nur manchen Völkern zuteil wird, und die Verteidigung der Menschenrechte selbst führt dann zu Rassismus und Diskriminierung.

Leider muß man feststellen, daß die Debatte im Westen häufig nur an bestimmten Menschen in bestimmten Regionen interessiert war und die Menschen anderswo vergessen oder nicht beachtet hat. So daß dieses ursprüngliche Prinzip zur Durchsetzung politischer Interessen eingesetzt wurde und somit nicht mehr für den Glauben an ein humanitäres Ideal stand. Wenn das Gewissen des Westens auf die Menschenrechte in Afrika, China, Tibet usw., wie auch in Osteuropa und der Sowjetunion, aufmerksam wurde, so ist das zu begrüßen, ebenso die Sensibilisierung für die Probleme der Bevölkerung in diesen Teilen der Welt, aber man muß doch auch folgende Frage stellen: Jene Länder, die den Kiel zweier Kontinente bilden und von Menschen bewohnt werden, die man Araber nennt, verdienen sie etwa nicht, daß man ihnen dieselbe Beachtung schenkt?

Weshalb ist das Gewissen des Westens nicht für die Rechte der Kurden, der Armenier und anderer Minderheiten eingetreten? Weshalb hat es nicht die Rechte von beinahe einer Million Iraker verteidigt, die von der Diktatur Saddam Husseins außer Landes gejagt worden sind? Weshalb hat es nicht die Rechte der Palästinenser verteidigt, die im Artikel 171 des Sicherheitsrates und im Artikel 450 der Generalversammlung der Vereinten Nationen niedergelegt sind? Warum hat es sich nicht um die Palästinenser gekümmert, als ihre Häuser zerstört, ihre Dörfer besetzt wurden, und darum, daß sie seit einem Vierteljahrhundert in finsterstem Elend leben?

Weshalb haben sich die Schriftsteller des Westens nicht mit ihren arabischen Kollegen solidarisiert, ja, mit dem arabischen Menschen überhaupt, dem alle elementaren Rechte vorenthalten werden? Weshalb haben sie, anstatt den Arabern bei der Entwicklung ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Möglichkeiten Hilfe zu leisten, es im Gegenteil zugelassen, daß hochgezüchtete Waffen in verwüstete Regionen exportiert werden? Das Gewissen des Westens hat scheinbar weniger das Anliegen, den Arabern dabei zu helfen, Wissenschaft, Kenntnisse und Freiheit zu erlangen, sondern vielmehr dabei, Panzer, Bomben, Armeegerät und Flugzeuge zu importieren. Man hat den Eindruck, der Westen ist auf der Seite von all dem, was antidemokratisch und menschenfeindlich ist und was die arabischen Regime begünstigt, also auch Unterdrückung und Tyrannei.

Insoweit spricht alle bisherige Erfahrung gegen die Hoffnung Enzensbergers, ein reinigender Krieg gegen Saddam Hussein könne wie einst der alliierte Sieg gegen Hitler demokratischen Verhältnissen den Weg bahnen. Zum Thema des israelisch-arabischen Konflikts hört man in der westlichen Debatte nur jene Argumente, die für die Politik Israels sprechen und die andere Seite negieren. Das kommt einer Billigung des israelischen Vorgehens in den besetzten Gebieten gleich, welches selbst von liberalen jüdischen Intellektuellen in Israel angeprangert wird. Diese Art von Unterstützung berücksichtigt nicht, welche historischen Beziehungen zwischen den Arabern und Juden bestehen, sie verhindert, daß sich eine gemeinsame Zukunft zwischen Israel und den Arabern, die Palästinenser eingeschlossen, abzeichnen könnte. So, als müsse man nur der Feind der Araber sein und würde damit automatisch zum Freund der Israelis ...

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Die Denker des Westens sollten daran mitarbeiten, daß wir aus dieser Sackgasse der Feindseligkeiten und des Krieges herauskommen und zu neuen Horizonten der Zivilisation und der gegenseitigen Anerkennung aufbrechen können, einer Renaissance der historischen Bande zwischen Arabern und Juden, und sie sollten Mut machen für ein friedliches Zusammenleben und einen friedlichen Austausch.

Die wahre Unterstützung Israels beruht, so sollte man denken, auf der Schaffung eines dauerhaften und gerechten Friedens. Wie kann man die Araber jetzt kritisieren, wo doch nichts von all dem bis heute versucht worden ist? Der Westen hat im Gegenteil in ihren Beziehungen zu Israel den Aspekt der Feindseligkeit gefördert und darin lediglich die günstige Gelegenheit gesehen, seine Waffen zu verkaufen. Wie sollen unter solchen Umständen die Reaktionen der Araber denn aussehen, die auf eigenem Boden in Unterdrückung leben müssen, unterdrückt nicht nur von ihren eigenen Regimen, sondern auch von den Ländern, die diese Regime ausstatten? Man muß deshalb die Araber verstehen, wenn sie heute dem Westen gegenüber ihre Verbitterung zum Ausdruck bringen und gleichzeitig ihre eigenen Regime mit einschließen, bisher haben sie alles in sich versenkt und, leider, geschwiegen. Ich halte es übrigens für oberflächlich, wenn man, wie es viele jetzt tun, Saddam Hussein mit dem irakischen Volk oder allen Arabern in ihrer Gesamtheit identifiziert. Man muß die verborgenen Gründe der Sympathie für Saddam Hussein in diesem Krieg untersuchen, wenn man nicht der Vereinfachung und dem Irrtum verfallen will. Die Leute, die ihre Sympathie bekunden, handeln nicht nach einer rationalen Analyse oder aufgrund einer klaren politischen Vision. In diesem Krieg sehen sie eine Herausforderung des Westens, der über zwei Jahrhunderte ihr Recht auf Freiheit und Demokratie ignoriert hat. Es ist ein Ausdruck ihrer Verbitterung und Enttäuschung, als würden sie hier mit einem Schrei Rechenschaft fordern, den sie aus ihrer innersten Verzweiflung hervorgestoßen haben.

Was mich angeht, so weigere ich mich, nun ebenfalls mit Identifikationen aufzuwarten, ich möchte diese Debatte des Westens nicht mit Europa in seiner Ganzheit gleichsetzen. Immer noch beurteile ich Europa nach seinen schöpferischen Geistern und seiner Kreativität, ich hoffe, daß die europäischen Denker uns auf dieselbe Weise betrachten. Man darf Arabien nicht auf eine Ölquelle reduzieren. Die Araber sind auch mehr als nur Polizisten, die ihre Leute zum Gebet führen, oder jene Parteien, die sich zum Verteidiger Gottes aufschwingen. Auch die Araber haben ihre Kreativität und ihre schöpferischen Geister. Sie haben ihre Kämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit in der Welt, und sie haben ihre Rolle in der Zivilisation und der Kultur. Sie sind nicht in der Zeitlichkeit eines Saddam Hussein gefangen. Sie haben ihre Geschichte und ihre Zukunft. Das Gewissen des Westens darf nie vergessen, daß der Horizont, den die Revolutionen der westlichen Welt, vor allem die Französische Revolution, eröffnet haben, nicht nur für den Menschen des Westens Gültigkeit besitzt, sondern für die ganze Menschheit. Es muß sich immer bewußt sein, daß die Religion in traditionalistischen Gesellschaften nicht so sehr ein religiöses als vielmehr ein politisches und soziales Problem darstellt, soweit sie die Freiheit des Geistes und des Denkens behindert und folglich auch den Fortschritt.

Man darf allerdings nicht übersehen, daß jetzt gegen Ende des 20. Jahrhunderts dieses Gewissen im Schwinden begriffen ist, verglichen mit dem, was in den beiden vorausgegangenen Jahrhunderten gewesen war: Anstatt die Revolution der Vernunft weiter zu treiben, stärkt es durch seine Resignation jene andere Revolution, die sich nun vor unseren Augen abspielt: Fundamentalismus und Obskurantismus.

Verlange ich etwa zuviel vom Gewissen der Europäer? Setze ich allzu großes Vertrauen in ihr Bewußtsein? Soll ich also sagen, daß ich in dem, was jetzt auf arabischem Boden passiert, nichts Überraschendes sehe? Immerhin glaube ich, daß im aktuellen Kontext Selbstkritik angebracht ist, daß sie sogar unumgänglich ist, wenn man andere kritisiert. Ich möchte also fragen: Wo liegt der Grund des Problems? Bei den anderen oder bei uns? Wenn wir Araber die völlige Befreiung von der Hegemonie des Westens wollen, wenn wir unser Leben, unsere Kultur und Zivilisation aus eigener Kraft aufbauen wollen, wie können wir diese Befreiung erreichen, solange unsere Regime doch im wesentlichen auf Optionen basieren, welche die Hegemonie des Westens, insbesondere der Vereinigten Staaten von Amerika, weitgehend ermöglichen. (Wenn ich vom „Westen“ spreche, meine ich damit keine Totalität. Der Westen ist keine Einheit, ebensowenig der Orient. Es gibt eine Vielfalt an Okzidenten wie auch an Orienten. Worauf ich abziele, sind der politisch-ökonomische Westen und der Orient, der ihm entspricht.)

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Wie können wir also an unser Ziel gelangen, wo wir jetzt im Schatten von Regimen leben, die ihr Volk isolieren und einmauern? Diese Völker haben weder Rechte noch Freiheiten, sie haben nur die Pflicht zum Gehorsam und zur Unterwerfung. Regime, die dem Menschen keinerlei Bedeutung zubilligen. Regime, die die schöpferische Energie verachten und ihre Intellektuellen, Künstler, Schriftsteller zu Beamten erniedrigen, zu bezahlten Agenten und Lohnschreibern. Regime, die die ihnen anvertrauten Reichtümer ihrer Länder und ihrer Völker nur zur eigenen Stärkung einsetzen, um ihr Fortbestehen zu sichern, anstatt sie für die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu verwenden. Regime, die über Völker regieren, in denen die meisten Menschen keinerlei Chance haben, ihr Auskommen in der Produktion und durch Arbeit zu finden. Regime, die in ihrer Propaganda stolz darauf hinweisen, sie würden sich im Schoße zweier Kontinente und in der Wiege der menschlichen Zivilisation befinden, dabei verwalten sie nur das Analphabetentum, das Elend und den Despotismus, und heute, gegen Ende des 20. Jahrhunderts, sucht man hier vergeblich nach einer einzigen Zeitung, deren Horizont über die Ansichten hinausgeht, die die Institutionen predigen, deren Aufgabe es ist, als Sprachrohr des Regimes zu dienen. Überdies nehmen diese Regime den Westen nur in Anspruch, um von seiner Modernität auf dem Gebiet des Konsums zu profitieren.

Wie sollte man also überrascht sein, wenn die Araber unablässig dazu getrieben werden, Positionen einzunehmen und Situationen ausgesetzt zu sein, die entweder selbstzerstörerisch sind oder dazu führen, daß man sie zerstört? Und so stellt sich die heutige Situation dar als ein schreckliches Glied in der Kette eines unbarmherzigen Räderwerks, das seine tragischen und seine komischen Seiten hat.

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Wenn das Hauptproblem der Araber darin besteht, sich vom Westen zu befreien, so muß diese Befreiung auf arabischem Boden mit der Einführung einer lebensfähigen Demokratie und des Dialogs beginnen, denn nur auf diesen beiden Wegen ist ein Denken und Handeln zu erreichen, das ein Leben in Würde ermöglicht. Außerdem muß man sich bedingungslos dem Prinzip der Menschenrechte und seinen Freiheiten als oberstes Ziel anschließen und eine Produktionsweise schaffen, die der Bevölkerung das Gefühl gibt, voll und ganz auf dem eigenen Boden zu existieren, und somit wirtschaftliche Unabhängigkeit und Selbstversorgung verwirklicht, um den Arabern das Vertrauen in sich selbst, in ihre eigene Kraft und ihre Bestimmung wiederzugeben.

Wenn sie dies alles erreichen könnten (es mag im Augenblick utopisch erscheinen, aber undenkbar ist es nicht), dann würde den Arabern bewußt werden, daß ihre Rolle in der Welt nicht gleichbedeutend ist mit Niederlage und blinder Gefolgschaft, sondern im Gegenteil Produktion, schöpferische Kraft und Ausstrahlung bedeutet, und daß ihnen eine besondere Rolle beim Aufbau der Welt und des Menschen zukommt.

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Im Land der Poesie, zwischen den Worten lebend, wo auch mein Volk und der Mensch wohnen, entgegengesetzt dem Prinzip des Krieges, kann ich mir nicht vorstellen, daß das menschliche Wesen, und vor allem der Dichter, den Krieg als die beste Lösung für ein Problem ansehen könnte. Die Poesie macht das Leben auf Erden schöner, nimmt ihm etwas von seiner Vergänglichkeit und seinem Elend. Der Krieg, ein kollektiver Kampf, führt zu Herdengeist und dazu, daß der Mensch sich von der Humanität zur Barbarei zurückentwickelt.

Was ich hier gesagt habe, spreche ich aus in der Furcht, die Ereignisse, die sich auf arabischem Boden abgespielt haben, könnten der Ausbruch eines historischen und religiösen Prozesses der Verdrängung sein, die westliche Demokratie könnte sich möglicherweise zu einer „wilden Demokratie“ verwandeln, um einen Begriff von Claude Lefort aufzugreifen. „Vernichtet die Söhne Babylons, die Söhne des Orients ...“ (Joseph Yacoub, Rache an Babylon, 'Le Monde‘ Nr. 14310). Und was auch immer der Ausgang der aktuellen Ereignisse sein mag, ich befürchte, sie könnten uns in eine Zeit führen, die nur noch einen Einlaß in die Zukunft offenläßt: das Gebet und das Schwert. Adonis, 15. Februar 1991