500.000.000.000 Mark alternativ

■ Die linken Waisen der Wirtschaftspolitik fordern massive Finanzspritzen für die Ost-Ökonomie/ In Zeiten großer Not finden auch schon mal linke Professoren mit ihren Theorien öffentliches Gehör

Sie sind nicht die fünf Weisen, deren Ratschlägen Volk wie Regierung so gerne lauschen. Eher schon sind sie die Waisen der Wirtschaftspolitik, die mit ihren Analysen gern links liegengelassen werden: die gewerkschaftlich orientierte Memorandum- Gruppe „Alternative Wirtschaftspolitik“ um den Bremer Ökonomieprofessor Rudolf Hickel. Gestern stellten sie in Bonn ihre Sicht der siechen Wirtschaft in den fünf neuen Ländern dar.

Ihr „16. Memorandum zur Wirtschaftspolitik“ seit 1976 war, natürlich, eine Analyse der Not und des Bankrotts. Die Rede war von östlichen „Verelendungsspiralen“ und „automatischen Benachteiligungszirkeln“; und der Bundesregierung wurden „schwerwiegende Konstruktionsfehler im Einigungsvertrag“ und „völliges Versagen durch ideologische Rechthaberei und kompromißlerische Kleinkrämerei“ bescheinigt.

Jahrelang, als die Konjunkturloks durch den Westen dampften, fanden die alternativen Wirtschaftspolitiker nur schwer Gehör. Jetzt, angesichts der blanken Not im Osten, triumphieren auch schon mal Argumente aus Gewerkschaftssicht — wie immer, wenn Massenarbeitslosigkeit und Wirtschaftsschwäche Hochkonjunktur haben.

Allerdings ist mittlerweile auch die Bundesregierung mit ihrem „Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost“ vom 28. Februar von der simplen Ideologie der uneingeschränkten Marktherrschaft hinweggeschwenkt. Doch das Desaster im Osten ist so offenbar, daß schon besondere Forderungen gestellt werden müssen, um wahrgenommen zu werden. Die Regierungsinitiative, gesteht Rudolf Hickel zu, gehe zwar in die richtige Richtung, sei aber „konjunkturausgerichtet“ und habe nur „einen Strohfeuereffekt“. Hickel nannte einen Betrag von gut 500 Milliarden Mark, der innerhalb der kommenden fünf Jahre für die fünf Ostländer aufgebracht werden müßte. Zur Finanzierung dieser Summe forderte er die altbekannten Kürzungen von Subventionen und Militäretat, eine Ergänzungsabgabe von zehn Prozent für Besserverdienende (das sind bei Hickel Menschen, die mehr als 50.000 Mark brutto als Ledige verdienen), diverse Arbeitsmarkt- und Investitionshilfeabgaben, eine Neubelebung der Quellensteuer sowie neue Zwangsanleihen. Durch diese „Anleihen mit Zeichnungspflicht“, bei Niedrigzinsen unter Marktniveau in Höhe der Inflationsrate, sollen „einkommensstarke Gruppen“ und Großunternehmen wie Banken und Versicherungen bis 1996 allein 75 Milliarden zur Vorfinanzierung der östlichen Wiederbelebung aufbringen.

Darüber hinaus solle der Westfiskus bis auf weiteres gänzlich auf die Umsatzsteuer verzichten und statt dessen seine Energien darauf verwenden, Steuerkriminellen energischer nachzustellen und Betriebe häufiger zu überprüfen. Die 500 Milliarden seien, sagte Hickel, eine seriöse Zahl, da das Maßnahmenbündel „genau nachgerechnet worden ist“.

Ökologische Vorschläge machten die alternativen Wirtschaftler nicht. Im Gegenteil: Hickel lehnte die Mineralölsteuererhöhung ausdrücklich ab, weil sie nur zur Füllung des Staatssäckels da sei und keine direkten Effekte auf die Verkehrslenkung selbst hätte. Das alte Dilemma, auch hier: Wenn sich Arbeitslose und Geringverdiener weniger Freiheit auf den Autobahnen leisten können, ist das zwar eine kleine Hilfe für die Umwelt, aber eben unsozial. Horrorszenario: Stell Dir vor, es ist Berufsverkehr, und nur Benze rollen mit. Dann schon lieber weiter so im gemeinschaftlichen Ökonomief. Bernd Müllender