: Ostwind bläst Kohl ins Gesicht
■ Wo im Winter 1989 die Menschen nach "Deutschland einig Vaterland" riefen, forderten jetzt 70.000 Enttäuschte auf dem "Platz der Verkohlung" den Rücktritt des Einheitskanzlers.
Ostwind bläst Kohl ins Gesicht Wo im Winter 1989 die Menschen nach „Deutschland — einig Vaterland“ riefen, forderten jetzt 70.000 Enttäuschte auf dem „Platz der Verkohlung“ den Rücktritt des Einheitskanzlers.
Herbstgefühle im Vorfrühling ergriffen wohl so manchen, als sichtbar wurde, daß der übergroße Teil der Passanten in der Leipziger Innenstadt gegen 17.00 Uhr nicht den Heimweg in die Außenbezirke nahm, sondern erwartungsfroh bis grimmig auf den Augustusplatz strömten, der vor nicht allzu langer Zeit noch nach Karl Marx benannt war.
Nicht nur die Menschenmenge, die schon eine gute halbe Stunde vor Eröffnung der Kundgebung den Platz vor der Oper füllte, auch das massive Medienaufgebot, die Fernsehteams auf der emsigen Suche nach exemplarisch Betrogenen, findige Würstchenverkäufer und die bislang noch nicht aufgetretenen Werbekolonnen von Süßwarenherstellern machten deutlich, daß diese Leipziger Montagsdemonstration die traditionelle Qualität einer politischen Massenaktion erreichen würde.
Offenbar hatten die vorangegangenen, mehr gewerkschaftlich dominierten Protestmärsche ihre initiierende Wirkung nicht verfehlt. Rund 70.000 hatten sich am Ende auf dem Augustusplatz versammelt, und die mitgeführten Transparente gaben beredtes Zeugnis davon, daß diesmal wirklich alles Volk versammelt war. Gastronomen, Lehrer, Beschäftigte des Gesundheitswesen, Schüler und die Stammannschaften der IG Metall und der ÖTV jubelten dem Bundestagsabgeordneten Werner Schulz vom Bündnis 90/Grüne zu, der sich mit seiner öffentlichen Einladung an Bundeskanzler Helmut Kohl, sich vor den empörten Leipzigern zu zeigen, bestens für diese Kundgebung empfohlen hatte. Unter Rufen wie „Kohl weg!“ und „Kohl abdanken!“ rief Schulz: „Offensichtlich ist Helmut Kohl mehr an Stimmen interessiert gewesen als an der Stimmung der Massen hier in Ostdeutschland!“
Er erinnerte daran, daß das Wahlergebnis der letzten Volkskammerwahl vor einem Jahr am 18. März auf einigen nicht gehaltenen Versprechen der CDU gegründet gewesen sei. „Ich nehme an, daß auch ein großer Teil von euch“, sprach Schulz die Versammelten an, „diesen Versprechungen Glauben geschenkt hat! Aber die eingetretene Existenzangst und Not in den neuen Bundesländern haben die politischen Sinne geschärft.“
Schulz schlug vor, sich direkt beim Kanzler Gehör zu verschaffen, und einen Sternmarsch nach Bonn zu organisieren. „Wenn der Kanzler nicht zu uns kommt, müssen wir eben zum Kanzler kommen!“ rief Schulz, von Beifallsstürmen begleitet. Hanjo Lukassen, Gewerkschaftssekretär des DGB, stellte fest, daß sich die Lage der Menschen entgegen allem offiziellen Optimismus „rapide verschlechtert“ habe. In diesem Jahr noch werde es in Ostdeutschland „ein Volk ohne Arbeit“ geben, wenn nicht etwas Gravierendes geschehe. „Wir müssen die Wende noch einmal durchsetzen“ sagte Lukassen, „die Wende zum wirtschaftlichen Aufschwung. Wir sind nicht die armen Verwandten. Wir sind nicht Deutsche zweiter Klasse!“ Wer sich in der Einschätzung der Aufgaben nach der Wiedervereinigung so geirrt habe wie Kohl, müsse seinen Hut nehmen, meinte Lukassen schließlich.
Jochen Kletzin von der IG Metall Leipzig forderte die Betriebsräte noch einmal nachdrücklich auf, keinen Kündigungen mehr zuzustimmen, bevor nicht realistische und humane Sanierungskonzepte auf dem Tisch lägen. Die Gewerkschaftler müßten sich stark machen für Beschäftigungs- und Qualifizierungsprogramme. Die nachfolgenden Redner machten ihren Unmut über den blinden Kahlschlag gerade im sozialen Bereich Luft. Die Auflösung von Polikliniken beispielsweise hinterließ ein Chaos im medizinischen Bereich, das vor allem Rentner und Pflegebedürftige auf härteste Weise treffe. Die Schließung der Lehrlingswohnheime könne angesichts der katastrophalen Wohnungslage unvorhersehbare Folgen haben.
Schließlich wurde auch die Forderung laut, den Bundestag nach Berlin zu verlegen, damit die Herren und Damen Abgeordneten aus ihrer Bonner Idylle ins Herz der ostdeutschen Misere gelangen. Gegen 19 Uhr, der Augustusplatz war mittlerweile mit Hilfe eines Transparentes in „Platz der Verkohlung“ umgetauft worden, brachen die Demonstranten zum Marsch um den Stadtring auf. Begleitet von umhergeschwenkten DDR-Fahnen und wütenden Rufen wie „Rote raus!“ und „Bonzenkinder!“ zogen die Massen am Hauptbahnhof und der einstmals geschmähten „Runden Ecke“ vorbei, dem ehemaligen Staatssicherheitsgebäude, in dem heute das nicht minder verachtete Arbeitsamt sitzt.
Der Demonstration vorausgegangenen war wie stets das Friedensgebet in der Nikolaikirche, bei dem der kürzlich mit dem Theodor-Heuss- Preis geehrte Wendepfarrer Christian Führer erneut zur Gewaltlosigkeit aufgerufen hat. Er wünschte sich, daß die Menschen im Sinne Jesu einander zuhören und gemeinsam für die Überwindung des Unterschiedes zwischen Deutschland-West und Deutschland-Ost eintreten.
Demonstriert wurde am Montag auch in Chemnitz, im oberlausitzschen Löbau und in Cottbus, wo Regine Hildebrandt (SPD) vor mehreren tausend Demonstranten den Erhalt des Industriestandorts forderte. In Berlin waren etwa 3.000 Demonstranten dem Aufruf des Neuen Forum gefolgt. Stefan Schwarz, Leipzig
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen