AL gibt Landesarchiv Schmücker-Akten

■ Gerichts-, Staatsanwalts-, Polizei- und Verfassungsakten zum längsten Prozeß in der deutschen Justizgeschichte werden für Öffentlichkeit zugänglich/ »Wahrheitsfindung nicht mehr möglich«

Schöneberg. Dies wollte der Verfassungsschutz nicht: Gestern übergab die Fraktion AL/Bündnis 90 etwa 80 Akten zum Fall Schmücker dem Landesarchiv in der Kalckreuthstraße. Unter den Gerichtsakten, den staatsanwaltlichen Hand- und den Polizeiakten befinden sich auch 15 Bände des Verfassungsschutzes. Vor wenigen Wochen habe nach Auskunft von Lena Schraut (AL) der Justitiar des Landesamtes für Verfassungsschutz noch mit einem Ermittlungsverfahren wegen Geheimnisverrates gedroht, falls die AL die Akten nicht an die Spitzel aus Dahlem zurückgeben würde. Gestern war zu der unkonventionellen Aktenübergabe allerdings keine Stellungnahme aus dem Landesamt zu bekommen.

Die Oppositionspartei verfügte über die 80 Akten, weil sie wie alle anderen Parteien im Untersuchungsausschuß zum Fall Schmücker vertreten war. Ulrich Schmücker war 1974 erschossen worden — doch der Mord konnte trotz mehrerer Gerichtsverfahren, die sich über 16 Jahre hinzogen, nicht aufgeklärt werden. Der parlamentarische Ausschuß sollte unter anderem die dubiose Rolle des Verfassungsschutzes klären. Fazit der Abgeordneten auf Grund des Aktenmaterials: Das Landesamt habe — mit Wissen und Hilfe der Polizei, der Staatsanwälte, der Richter, der Justiz- und Innenverwaltung — die Aufklärung des Tatgeschehens so beeinflußt und gesteuert, daß eine Wahrheitsfindung 16 Jahre nach Ermordung Schmückers nicht mehr möglich ist. Die anderen vier Parteien gaben am Ende der Untersuchung die Kopien der 80 Akten an die Institutionen zurück, von denen sie sie bekommen hatten.

Die AL/Bündnis 90-Fraktion brachte ihre Akten dem Landesarchiv, um zu verhindern, daß die beteiligten Verwaltungen diese Unterlagen vernichten und dadurch eine spätere Aufarbeitung durch Historiker verhindern könnten. Darüber hinaus will die Oppositionspartei die gängige Praxis aufbrechen, daß dem Landesarchiv vom Verfassungschutz keine Akten angeboten werden. Trotz der übergebenen 15 Verfassungsschutzakten bleibt aber immer noch der größte Teil der Geheimdienstunterlagen zum Fall Schmücker im Dunkeln geheimer Archive. Lena Schraut schätzte gestern, daß in den Kellern des Spitzel- Bunkers Auf dem Grat über 100 weitere Akten verborgen sind.

Die AL/Bündnis 90-Fraktion will vor Beginn der parlamentarischen Sommerpause ihren Entwurf eines Landesarchivgesetzes im Abgeordnetenhaus einbringen. Bisher können Polizei und Verfassungsschutz ihre Akten vernichten — mit dem AL-Gesetz wären die Behörden, wie schon jetzt alle anderen Berliner Verwaltungen, verpflichtet, vor einer Vernichtung die Datensammlungen dem Landesarchiv anzubieten. Dirk Wildt