Die lebenden Bilder

■ Rosselinis neorealistisches Monument „Paisà“ um 23.00 Uhr in Südwest 3

Im vielschichtigen, sicherlich nicht unproblematischen Begriff „Neorealismus“ verdichtet sich die erste filmische Praxis nach Zerschlagung des Nationalsozialismus, der das Aufkommen des Tonfilms im Europa der 30er als Unterhaltungs- und Propagandamedium entfremdet hatte. Verkürzt gesprochen fällt die Geburtsstunde des Neorealismus mit der Entdeckung Roberto Rosselinis Rom — Offene Stadt auf den ersten Filmfestspielen in Cannes 1946 zusammen, mit dem Südwest-3 letzte Woche eine Rosselini-Reihe eröffnete, die heute mit Paisà, dem wohl zentralsten Werk des „neo realismo“, fortgesetzt wird.

Aus dem umfangreichen Werk des Italieners, der nach eigener Aussage kein Cinéast sein wollte, ist gemeinhin nur die zweite Schaffensperiode bekannt. Der neorealistischen Phase voraus ging die stilbildende Arbeit als Propagandist im italienischen Faschismus, der im Gegensatz zum deutschen ästhetische Freiheiten zuließ und darüber hinaus mit dem Studiobau das materielle Fundament für den italienischen Film schuf. Den neorealistischen Filmen folgte eine privatistisch-subjektive Experimentierphase, derweil Rosselini allen kommerziellen Maßstäben zum Trotz den Casablanca-Weichzeichnermythos seiner Ehefrau Ingrid Bergmann schändete (David Lynchs Isabella-Schweinereien sind Zitat). Ab 1955 kehrte Rosselini der Leinwand den Rücken, um fürs Fernsehen didaktische Lehrfilme zu inszenieren.

Der 1946 mit einem Budget von 100.000 Dollar Mischfinanzierung des Amerikaners Rod Geiger gedrehte Film Paisà gilt als Bedeutungsfossil des Neorealismus schlechthin. Ohne nennenswerte Vorbilder staffelt Rosselini sechs Geschichten von der Landung der Aliierten in Sizilien bis hin zu Partisanenkämpfen in der Po-Ebene entlang der Süd-Nord-Achse des Stiefels zum ersten Episodenfilm, der bis zum Einsatz eines schneidend scharfen „Speakers“ stilistisch die Struktur der Kriegswochenschau adaptiert. Die durch Improvisation und Spontaneität gekennzeichneten Erzählelypsen kreisen, spannungs- und aktionsreich erzählt, immer wieder um die zwischen Situationskomik und Melodram wechselnde Begegnung der vorrückenden amerikanischen Soldaten mit der italienischen (Land-)Bevölkerung. Der Titel ist ein Mischwort aus dem italienischen „paesa“ (Dorf), das in amerikanischen Ohren wie „paisan“ (Bauer) klang; die Rückübersetzung des amerikanisch ausgesprochenen Mischwortes durch die Italiener potenzierte sich zu „Paisà“.

Der (vermeintliche) Realismus des am Beispiel Paisà oft exemplifizierten Neorealismus ist Produkt eines Durchgangs durch eine komplexe ästhetische Struktur. Dem (laut André Bazin) nachweislichen Einfluß des amerikanischen Romans folgend, werden gleichberechtigte Gegenstände und Menschen nicht wie im Hollywood-Film motivisch exponiert (Großaufnahme, Detail), sondern in der Tiefenschärfe der natürlichen Bedeutungsvielfalt ihrer kontextualen Lokalität belassen. Die Dinge „sprechen“ für sich selbst; das Vorgefundene bildet die natürliche Grundlage des Erfundenen. Die Geschichten sind in die korallenriffartige Vielfalt der italienischen Gebäude und ins vitale Gewimmel der gestikulierenden Menge eingeschrieben. Die unaufdringliche Beiläufigkeit der geschilderten Situation ist durch die Art der Montage angelegt; die Geschichte setzt sich erst im Kopf des Zuschauers zusammen.

In der vierten Episode etwa vermischt sich das persönliche Erleben einer Krankenschwester, die im Kugelhagel zwischen Heckenschützen und vorrückenden Amis ihren Dienst versieht, mit einer Fülle von Ereignissen und Eindrücken. Als versuchte man sich mit den Ellenbogen den Weg durch eine Menschenmenge zu bahnen, um etwas, das man verloren hat, wiederzufinden. In den Augen derer, die den Weg freigeben, spiegeln sich Geschichten und Sorgen, angesichts derer eigene verblassen.

Nach hindernisreichem Weg durch Hinterhöfe und Mauerdurchbrüche erfährt die Schwester von einem verwundeteten Partisanen zufällig, daß der, den sie suchte, tot ist. Das Interesse an der Heldin wird nicht durch die selektive Struktur des Gezeigten bewirkt. Der visuelle Kontext ist kein Dekor, sondern unverzichtbare Information im offenen Bogen der erzählten Geschichte. Neben Klaus Mann partizipierte auch Federico Fellini, dessen pittoresker Einfluß am deutlichsten in der fünften Episode spürbar ist. Manfred Riepe