Das Auge ein Engel

Ein Interview mit dem palästinensischen Filmemacher Michel Khleifi  ■ Von Michaela Ott

Die siebten „Tage des unabhängigen Films“ in Augsburg entwickelten sich in diesem Jahr zu einem Kampf an der Heimatfront. Die Organisatoren des Festivals, dessen Schwerpunkt in diesem Jahr auf dem Nahen Osten lag, sahen sich zähen Schikanen von seiten der Stadtverwaltung ausgesetzt. Nicht nur, daß eine begleitende Ausstellung palästinensischer Malerei verboten wurde („Aladin und die Wunderlampe“ war schon vor Monaten vom Spielplan der berühmten Augsburger Puppenkiste abgesetzt worden), sondern auch die Hinweistransparente zu den Filmtagen mußten aus der Altstadt entfernt werden; Karl-May-Bücher in die Vitrine eines Buchladens zu legen, glich einem revolutionären Akt... Wie zu erwarten, kam es nach dem Eröffnungsfilm „Lied der Steine“ des palästinensischen Regisseurs Michel Khleifi zum Skandal: Sowohl der Regisseur als auch die Veranstalter wurden der palästinensischen Propaganda bezichtigt. Die 'Süddeutsche Zeitung‘ weigerte sich, über die Filmtage zu berichten, unter anderem, weil es in München zur selben Zeit eine Jüdische Kulturwoche gab. Michel Khleifi, vertreten mit seinen vier Filmen, stand im Mittelpunkt des diesjährigen Festivals.

taz: Herr Khleifi, was sagen Sie zu dem Vorwurf von Richard Leacock [angloamerikanischer Dokumentarfilmer, ebenfalls Gast des Festivals; M.O.], daß Ihr Film „Lied der Steine“ ein reiner Propagandafilm sei?

Michel Khleifi: Lassen Sie uns nicht mit moralischen, sondern mit ästhetischen Kriterien diskutieren. Was macht einen Propagandafilm aus? Daß er eine bestimmte ideologische Sicht der Gesellschaft mit möglichst wirksamen ästhetischen Mitteln aufbereitet: all das gibt es nicht in meinem Kino. Ich arbeite unabhängig; meine Filme sind vom ZDF finanziert worden. Ich bin keiner Organisation, keinem Staat verpflichtet. Ich spreche in niemandes Namen; ein Propagandafilm würde nicht das Leid in den Vordergrund stellen, das geht gegen die Partisanenideologie, die Heroentum braucht. Ich zeige das menschliche Leid im allgemeinen...

Wie kamen Sie dazu, Dokumentaraufnahmen beider Seiten zu machen, das heißt solche der Kinder und Opfer der Intifada ebenso wie solche der israelischen Miliz beziehungsweise Peace-now-Bewegung?

Das von mir angestrebte Kino ist eines der Unschuld. Das Auge muß unschuldig sein, ein Engel. Es gibt eine einzige Moral: nie auf der Seite des Henkers zu stehen. Wenn ich mit der Realität der israelischen Militärs konfrontiert werde, wird die Kamera mit hineingezogen, sie stößt sich daran, aber die Kamera respektiert den Menschen. Sie ist gegen sein System, aber nicht gegen ihn als menschliches Wesen. Ich interessiere mich dafür, ihn als Menschen zu zeigen, wie er beispielsweise verloren zwischen Mauern steht. Krieg ist eine Dummheit, darin gibt es palästinensische Opfer, aber auch israelische... Auch die israelischen Soldaten sind Opfer. Derjenige, der die elementaren Kräfte des Lebens zerstört, wird ebenfalls verstümmelt, weil er kein richtiges Bild des Lebens mehr vor sich hat. Im Moment gibt es in Israel zwei Gesellschaften: die eine ist so stark, so von ihrer strategischen Macht überzeugt, so besetzt von amerikanischen Überlegenheitsbehauptungen, daß sie jeglichen Bezug zur Realität verloren hat. Auf der anderen Seite das palästinensische Volk, das so viel Leid angesammelt und sich in dieses Leiden derart hineingesteigert hat, daß es seinerseits den Bezug zur Realität verloren hat. In meinem letzten Film versuche ich nur, die Dinge wieder an ihren Platz zu rücken...

Wie ist Ihre fehlende Parteinahme von den Palästinensern aufgenommen worden?

Es gibt immer welche, die gegen mich sind. Ich bin aber davon überzeugt, daß der kulturelle Akt eben in dieser Unabhängigkeit besteht, in der Unabhängigkeit von jeder Politik. Das Kino, das ich machen will, soll die Politik wieder an ihren richtigen Platz rücken, als ein Element des Lebens, aber nicht als das Leben selbst. Ich kann nicht beurteilen, ob meine Arbeit innerhalb der gegebenen Situation der Palästinenser von Bedeutung ist: ob ich eine Vorreiterstellung habe oder einfach eine Außenseiterposition.

In Ihrem Film „Hochzeit in Galiläa“ sprechen Sie sich gegen Gewaltanwendung als Form der Konfliktbewältigung aus. Der Film wurde vor Beginn der Intifada fertiggestellt — würden Sie diesen Film heute noch so machen?

Natürlich. Ich bin gegen Gewalt, sie ist eine Dummheit. Das heißt jedoch nicht, daß ich gegen die Intifada bin, gegen den Freiheitskampf eines Volkes. Gegen Gewalt zu sein, heißt für mich, Situationen so anzulegen, daß sie ohne Gewalt lösbar sind. Solange diese Bedingungen nicht erfüllt sind, ist Gewalt legitim. Ich halte einzig die Gewalt für legitim, die man gegen sich selbst anwendet, wie die Braut in Hochzeit in Galiläa, die sich aus Solidarität mit ihrem Neuvermählten selbst entjungfert. Mich entsetzt gegenwärtig, wie schnell und bedenkenlos die israelische Polizei tötet.

Ich schätze an Ihren Filmen, daß Sie trotz Ihres Engagements für die Palästinenser die traditionshalber auf die Frau ausgeübte Gewalt nicht aussparen, daß Sie wie in „Das fruchtbare Gedächtnis“ die doppelte Front zeigen, die sich für die Frau aus der aktuellen Situation ergibt.

So wichtig es ist, die innerhalb der Gesellschaft verübte Gewalt trotz der äußeren Bedrohung nicht zu vergessen, so denke ich doch, daß die Rolle der Frau sich in den letzten Jahren nachhaltig verbessert hat und gewisse Schritte nicht mehr rückgängig zu machen sind. Ich glaube nicht mal, daß die Integristen die Frau wieder unterwerfen können; wir leben in einer Periode des Übergangs, es bestehen große Unsicherheiten darüber, was kommen wird.

Welche ästhetische Konzeption hatten Sie für das „Lied der Steine“? Warum diese problematische Verknüpfung von Spielfilmhandlung und dokumentarischem Teil?

Beginnen wir mit dem Titel: Das Lied meint ein einsames und mystisches Liebeslied. Das Lied braucht das Wort. Die Steine dagegen sind die Realität. Ich wollte, daß die Wörter Bilder erzeugen, daß die Liebesgeschichte Bilder hervorbringt, daher habe ich diese Minimalszenerie gewählt. Andererseits wollte ich eine Fülle an realen Bildern. Ohne die Liebesgeschichte hätte ich nicht diesen Zugang zur Realität gehabt. Ich erzählte die Liebesgeschichte und nahm die dokumentarischen Bilder so auf, als ob eine der beiden Personen sie sehen würde... Alles begann mit einer Untersuchung zum Thema Märtyrertum; dabei stieß ich auf das Thema des Opfers, das mir wesentlich interessanter erschien. Der Begriff des Märtyrertums ist ein politischer, ideologischer Begriff, was für den einen ein Martyrium ist, ist es nicht unbedingt für den anderen; das Opfer dagegen existiert für beide, selbst ein Feind kann zugeben, daß sich sein Feind geopfert hat. Wenn ich die Liebesgeschichte herausnähme, würde es eine banale Chronik werden, da der Diskurs der Palästinenser so homogen geworden ist, so vereinfacht. Ein Arbeiter im Gaza-Streifen erzählt einem genau dasselbe wie ein Apotheker in Ramala. Als Filmemacher hätte ich in zehn Minuten alles erzählt, ich würde genau dasselbe wie das Fernsehen tun. Ich dagegen versuche, das Paradox auf die Spitze zu treiben, zu enthüllen und Fragen zu provozieren. In der arabischen Gesellschaft gibt es keinen Platz für das Individuum, für persönliche Intimität. Ich versuche, den Personen Individualität zu verleihen, sie in ihrer Intimität mit ihren Verletzungen darzustellen... Gleichzeitig ist der Film eine Reflexion über Kino und eine Stellungnahme gegen das amerikanische Kino, da er im Laufe der Bewegung zeigt, daß die Realität stärker als die Fiktion ist...

Haben Sie als jemand, der im Exil lebt, nicht das Problem, den Anschluß an das Lebensgefühl und an die Tradition Ihres Heimatlandes zu verlieren?

Ich glaube, es gibt niemanden, der die palästinensische Tradition so besungen hat wie ich. In jedem Film sind die Eingeweide der palästinensischen Gesellschaft dargestellt. Ich habe da keine Bedenken, ich spüre diese Gesellschaft bis in die Fingerspitzen, sie ist meine Leidenschaft. Ich kannte Jean Genet. Er hat mir dieselbe Frage wie Sie gestellt. Und ich habe ihm gesagt: Das Exil, besonders im Norden (in Brüssel) ist wie ein Kühlschrank. Es hält einen frisch. Sie treten aus dem Kühlschrank heraus, mit frischgehaltenen Emotionen. Meine westliche Perspektive wird freilich in meiner Heimat oft als Verrat empfunden, die Nacktheit der Braut beispielsweise in Hochzeit in Galiläa, für mich ist sie eine Befreiung, für die Leute dort ein Verrat.

Werden Ihre Filme von Ihren Landsleuten überhaupt rezipiert?

Nur als Video. Das ist ein Riesenproblem. Viele meiner Landsleute attackieren mich aus moralischen Gründen. Über einen Film, der nur auf Video zugänglich ist, will ich mich nicht unterhalten. Ich will nicht moralisch diskutieren, sondern ästhetisch.

Wurden Ihre Filme in Israel gezeigt?

Nach langen inneren Kämpfen habe ich mich entschlossen, meine Filme in Israel vorzuführen. Ich habe mit der Jerusalemer Kinemathek eine kleine Vorführungsreihe abgesprochen. In drei Sälen sind meine Filme gelaufen, aber es sind keine Zuschauer gekommen. Was die Verständigung betrifft, hat das also nichts gebracht. Ich bin auf den Feind zugegangen, er aber hat sich für mich gar nicht interessiert...

Woran arbeiten Sie gegenwärtig?

Ich habe gerade eine Szene geschrieben, in der ich eine Palästinenserin in Jerusalem sagen lasse: Der Westen will, daß wir ihm eine Person wie Saddam Hussein liefern, nur damit er uns besser töten kann...

Das Berliner Regenbogenkino zeigt von Donnerstag bis Sonntag drei Filme von Michel Khleifi: „Das Lied der Steine“, „Das fruchtbare Gedächtnis“ und „Die Hochzeit von Galiläa“.