BERLIN BABYLON

■ Aufruhr in der Schnarchzentrale am Rhein

Ein Gespenst geht um im Bonner Wasserwerk, der Regierungssitz Berlin. Die Aussicht, daß deutsche Politik künftig nicht mehr aus einer verbeamteten Heile-Welt-Kulisse dirigiert, sondern aus dem chaotischen Schmelztiegel einer Metropole heraus gestaltet werden soll, treibt den Abgeordneten quer durch alle Fraktionen Angstschweiß ins Genick. Zwar haben die eifrigsten Dienstwagenbenutzer schon ausgerechnet, was die erhöhte Kilometerpauschale bei der Anreise zu Parlamentssitzungen nach Berlin bringt, aber was ist das verglichen mit den Verlusten, die sie bei der Zweit-Eigentumswohnung in Bonn hinnehmen müßten.

Von keiner anderen Abstimmung im Bundestag — von den Diätenerhöhungen einmal abgesehen — waren die Volksvertreter jemals so direkt und persönlich betroffen wie von den Folgen der Entscheidung über den künftigen Regierungssitz — wer wird ihnen da verdenken, daß sie auch ganz direkt und persönlich entscheiden. Selbst der Kanzler betrachtet die Kunst der Meinungsfindung ja als Privatsache, die an sich niemanden, geschweige denn das Volk, etwas angeht. Wer will den Hinterbänklern da vorwerfen, daß sie ebenso verfahren und ihrer verbrieften Gewissensfreiheit nach höchst eigenem Gusto frönen. Noch vor der Sommerpause soll ihr Votum im Kasten sein und – 'Bild am Sonntag‘ hat vorab bei allen Abgeordneten angefragt — mit einer angeblich klaren Mehrheit für den Verbleib in Bonn. Ein Ergebnis, das kaum überraschen kann — wo in völliger Abwesenheit einer politischen Idee (oder gar Vision) ganz privatim aus dem Bauch entschieden wird, ist das Hemd natürlich näher als der Rock. Wer sich nur einen Moment in den Geist einer Bundestagsabgeordnetengattin in Oberbayern, Ostfriesland oder Mittelhessen versetzt, die ihren Jürgen oder Willy künftig mindestens zweiwöchentlich in das durchgehend geöffnete Sündenbabel einer Vier-Millionen- Metropole reisen lassen soll, weiß, warum die Schnarchzentrale am Rhein allerbeste Chancen hat, Regierungssitz zu bleiben.

Mit den Argumenten, die öffentlich dafür angeführt werden — allen voran den Umzugskosten — hat es jedenfalls nichts zu tun. Es ist die Angst des deutschen Michel (und seiner Hannelore) vor der großen Stadt, diese von schwäbischer Kehrwoche und münsterländischem Putzzwang geprägte Abscheu vor Papierschnipseln auf dem Rasen und Leergutsammlern an den Mülltonnen, eine von chronischem Märklinismus geprägte Mentalität, deren Pappmaché- Ordnung und Fußgängerzonen-Einfalt schon angesichts jugendlicher Skateboard-Fahrer aus dem (Faller-)Häuschen gerät.

Wie verheerend da erst bettelnde Obdachsuchende, leibhaftig demonstrierende Mieter oder Arbeitslose wirken müssen, wie bedrohlich das von keiner Polizeistunde im Zaum gehaltene Lotterleben der Bars und Spelunken, liegt auf der Hand. Die knallenden Gegensätze der Stadt, die Spannung zwischen Glimmer und Depression, von Fortschritt und Apokalypse — sie sind dem Wolkenoggersheim deutscher Volksvertreter schlicht nicht kompatibel.

Nach dem Ausnahmezustand 1933ff., dem Weltkrieg und der Teilung hat für Berlin erst mit dem Fall der Mauer die Nachkriegszeit begonnen — und es nimmt dort den Faden wieder auf, wo die Nazis (deren strammste vom Führer abwärts, wie ihre euphorischsten Wähler, keineswegs von hier, sondern von südlich der Mainlinie stammten) ihm ein Ende setzten: in den röhrenden Zwanzigern, wo blaue Engel deutsche Staatsbeamte verführten und für Muttern immer der Mann mit dem Koks da war. Zumindest in den Köpfen der Abgeordneten (samt Gattinen) ist dieses Babylon Berlin längst wieder auferstanden. Daß ausgerechnet jene, die am lautesten zur „weltpolitischen Verantwortung“ deutschen Militärs trommeln, zu den schärfsten Verfechtern des potemkinschen Regierungsdorfs Bonn zählen, wundert nicht. Wem schon der Straßenlümmel vor der eigenen Haustür wie ein Vorbote der Hölle erscheint, der muß seinen Verteidigungsbereich zwanghaft bis auf die Molukken ausdehnen. Nicht nur der „Blitzkrieg“, auch seine unbewußte Voraussetzung ist in den internationalen Sprachgebrauch eingegangen: Die „German Angst“ ist im Kampf um Bonn am Werk.

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