Ich liebe Schwierigkeiten

Ein Gespräch mit Julie Delpy, der Hauptdarstellerin in „Homo Faber“  ■ Von Gerhard Midding

taz: Mademoiselle Delpy, „Homo Faber“ ist bei uns in Deutschland klassische Schullektüre. Wie bekannt ist der Roman in Frankreich und haben Sie ihn vor dem Filmangebot selbst schon einmal gelesen?

Julie Delpy: Nein. Mir wurde der Film angeboten und ich las das Drehbuch, das mir sehr gut gefiel. Bevor ich mich mit Volker [Schlöndorff] traf, wollte ich den Roman unbedingt noch lesen und war ganz begeistert. Nein, leider sind bei uns der Roman und auch Max Frisch nicht sehr bekannt. Hier liest man statt dessen Sartre und Camus.

Welche Unterschiede entdecken Sie zwischen der französischen Auffassung des Existentialismus und der Frischs?

Der Roman kommt mir realistischer vor als Sartres und Camus' Werke, aber zur gleichen Zeit behandelt er das Thema Schicksal viel ausführlicher und auch wagemutiger. Deshalb wirkt er auf mich auch universeller als die Franzosen. Deren Romane verbinde ich eher mit einer gewissen Zeitepoche, der sie verhaftet sind und auch bleiben. Bei Homo Faber ist das nicht so.

Da möchte ich Ihnen widersprechen, denn für mich spricht der Roman sehr deutlich über gewisse Zeitströmungen im Deutschland der fünfziger Jahre. Der Mann, dem Faber im Flugzeug begegnet, evoziert zum Beispiel sofort den Gedanken an das, was wir „Wirtschaftswunder“ nennen.

Ich verstehe, daß Sie da aus deutscher Sicht ganz andere Assoziationen haben.

Ich möchte bei der Frage des Zeitbezugs bleiben. Der Film legt ja einigen Wert auf Authentizität im Dekor, in der Mode etc. Haben Sie Recherchen angestellt über diese Zeit, die Ihnen zur Entwicklung Ihrer Figur genutzt haben?

Ich habe nichts über die fünfziger Jahre gelesen, wohl aber die Art von Büchern, die ein Mädchen wie Sabeth in der Zeit gelesen hätte. Natürlich habe ich Sartre und Camus noch einmal gelesen. Das war keine ausgesprochene Recherche, und das habe ich auch von mir aus gemacht, das war keine Idee Volkers. Ich wollte mich einfach in das Denken eines Mädchens aus der Zeit hineinversetzen, die Haar- und Kleidermoden waren mir da nicht so wichtig. Ich habe zur Vorbereitung auch viele griechische Mythen noch einmal gelesen: Ödipus, Pandora, Ikarus. Sie alle behandeln das Thema des Schicksals. Sehr viele Motive aus den Mythen stecken in Fabers Geschichte. Wie Ikarus stürzt er ab, zunächst mit dem Flugzeug und dann in die Realität, die ihn mit der eigenen Tochter konfrontiert. Seine Flügel schmelzen, sobald er in die Nähe des Lichtes und der Wahrheit gerät. Das half mir weniger für meine Figur, Sabeth. Andererseits habe ich Faber studiert, um sie besser verstehen zu können.

Sabeth ist eine sehr interessante Zeitfigur. Sie ist ein Backfisch voll „unerschöpflicher Neugier“, aber keineswegs mehr naiv: Sie ist durch die Schule der Nachkriegszeit gegangen.

Ja, ich glaube, dieses Verlangen nach Wissen hat sehr viel mit dem Lebensdrang der Nachkriegszeit zu tun. Ich denke, das war auch nach dem Ersten Weltkrieg so, in den sogenannten „wilden Zwanzigern“. Sabeth ist eine Figur voller Energie, die sich — anders als Faber — ausleben will. Sie verkörpert ein wenig das Unbewußte Fabers, das er nicht ausleben und sich selbst auch nicht eingestehen will: Lebensenergie; Neugier.

Es ist fast eine Ironie der Geschichte: Sabeth ist gleichzeitig ein Geschöpf seiner Imagination und seine Tochter.

Sie verköpert alles, was in seinem Leben fehlt. Und er ist von ihr fasziniert, weil sie seine Tochter ist. Das weiß er zwar nicht, aber sie ist ein Teil von ihm. Und von Hannah, ihrer Mutter. Ich glaube, daß er jede Frau, der er begegnet, mit Hannah vergleicht, sie an ihr mißt. Sabeth ist eine „kleine Hannah“, sie ist ein Teil von beiden. Das gehört zu den faszinierendsten Aspekten des Romans: es gibt keine Schwarzweißmalerei, nur subtile Andeutungen, man muß einen großen Teil der Geschichte zwischen den Zeilen lesen.

Ich glaube, Max Frisch war, nachdem er Sie bei einem Screen- Test gesehen hat, sehr zufrieden mit der Besetzung der Sabeth. Das ist doch sicher schmeichelhaft für eine französische Schauspielerin, daß ein Schweizer Autor sie für die perfekte Besetzung hält.

Nicht nur für eine Frnazösin! Das würde eine Schauspielrein aus jedem Land, auch aus der Schweiz oder Deutschland, überraschen: daß man dem Bild eines Schriftstellers von einer Figur, die er vor Jahrzehnten erdacht hat, so perfekt entspricht. Das ist fast das größte Kompliment für einen Schauspieler, der eine Figur zum Leben erwecken will, die aus der Vorstellungskraft eines Autors entstanden ist.

Finden Sie nicht auch, daß die internationale Besetzung dem Film einen ganz anderen Charakter verleiht als dem Buch? Sam Shepard wirkt viel amerikanischer und extrovertierter als der Romanheld. Wenn er während der Reise sagt: „Down the road!“ spricht aus ihm die Unternehmungslust des Helden aus einem Road-Movie.

Volker wollte von Anfang an einen Amerikaner für die Rolle und sprach darüber mit Max Frisch, der einverstanden war. Er hat den fertiggeschnittenen Film gerade gesehen und gesagt, daß er ihm sehr gut gefallen hat. Er fand die Verfilmung sehr originalgetreu, auch wenn das Drehbuch dem Roman nicht Szene für Szene folgt. Viele Gedanken Fabers aus dem Roman haben Volker und der Drehbuchautor Rudy Wurlitzer nicht übernommen, weil sie, auch wenn sie als Voice-over-Kommentar eingefügt worden wären, den Film sehr verlangsamt hätten. Max Frisch hat mir gesagt, wir hätten im Film wirklich das umgesetzt, was er im Roman andeuten und erklären wollte.

Ich hatte den Eindruck, daß sich Barbara Sukowa dabei sehr unwohl gefühlt hat, in der Originalversion englisch sprechen zu müssen. Entsprechend unsicher wirkte sie dann in vielen Szenen. Wie geht man als Schauspielerin mit der Unsicherheit der Partner um?

Ich fand nicht, daß Barbara Sukowa unsicher war. Barbara arbeitete lange vor den Dreharbeiten mit jemandem, der ihr half, ihren Akzent zu verbessern, und auch während des Drehs hatte sie — genau wie ich — einen „dialogue coach“. Deshalb hatte ich auch keine Probleme mit ihr. Und mit Sam hat man ohnehin keine Probleme: den erschüttert nichts, dem ist alles egal.

Wirklich? Oder ist das nur eine Attitüde?

Nein, er ist wirklich ein Typ, dem alles gleichgültig ist. Er interessiert sich nur für seine Pferde, seine Frau und seine Kinder. Und sicher auch für seine Stücke. Er beschäftigt sich nur mit sich selbst. Er strahlt eine gewisse Kälte aus, aber die hat mich nicht gestört. Es fällt mir nicht schwer, mit solchen Leuten zu arbeiten. Im Gegenteil, mit Sam machte es sehr viel Spaß, der wurde nie hysterisch oder nervös, der war immer gelassen.

Ihre beiden Partner gehören ja zwei sehr unterschiedlichen „Schulen“ an: Barbara Sukowa hat eine klassische Ausbildung hinter sich und besitzt Bühnenerfahrung. Sam Shepard erscheint mir eher wie ein instinktiver Darsteller. Wie stellt man sich auf solche Unterschiede ein?

Das ist gar kein so großer Unterschied. Man muß sich immer anpassen als Schauspielerin, denn jeder Partner hat ein anderes Temperament und eine andere Technik. Es ist nicht so wichtig, ob jemand von der Bühne kommt oder nur Filmschauspieler ist: das Spielen ist in jedem Fall ein Anpassungsprozeß. Ich selbst bin ja auch eher eine instinktive Schauspielerin. Ich habe sehr früh in diesem Beruf angefangen und auch nie Unterricht genommen. Ich fing bei Godard an und der riet mir, nie Unterricht zu nehmen. Aber ich stamme ja aus einer Schauspielerfamilie und kannte von zu Hause bereits diese Unterschiede: meine Mutter hat an einer sehr guten Schule gelernt und auch Preise erhalten, mein Vater hat nie eine Ausbildung mitgemacht.

Nach „La Passion Beatrice“ von Tavernier ist das die zweite Inzestgeschichte, in der sie mitspielen. Es gibt aber interessante Unterschiede: in Taverniers Film weiß ihre Figur, daß es der Vater ist, der mit ihr schläft, in „Homo Faber“ weiß sie es nicht. Welche Rolle war schwerer zu spielen?

In gewisser Weise ist jede Rolle so verschieden von einer anderen, daß mir ein Vergleich oder Gegensatz nichts bringt für die Zeichnung der Figur. Beatrice war sehr schwierig für mich, denn ich hatte große Probleme mit dem Schauspieler, der meinen Vater verkörperte. Der war verrückt, der wollte mich umbringen, so wütend war er darüber, daß ich mit gerade 17 Jahren schon Erfolg hatte im Beruf, während er sich sein Leben lang abgemüht hatte, um bekannt zu werden. Die Dreharbeiten waren sehr deprimierend, ebenso bedrückend wie die Geschichte des Films. Die Rolle jedoch war einfacher zu spielen, obwohl der Film starke physische Anstrengungen erforderte; es ist ja ein sehr harter und gewalttätiger Film. In Faber mußte ich mir hingegen zu Beginn jeder Szene aufs Neue sagen, daß Sabeth nicht weiß, daß es ihr Vater ist, mit dem sie schläft. Als Schauspielerin mußte ich also mein Wissen über die tatsächliche Situation vergessen und quasi vor der Kamera verbergen: ich mußte jede Szene dumm und unwissend spielen.

Der moralische oder vielleicht auch amoralische Aspekt ist natürlich in der Geschichte von Homo Faber interessanter. Der Vater in Beatrice vergewaltigt seine Tochter. In Faber könnten beide ein glückliches Paar sein, wenn ihre Beziehung nicht gegen gesellschaftliche Tabus verstoßen würde. Das macht die Geschichte umso trauriger, denn sie lieben sich. Für ihn ist es das erste Mal, daß er länger als drei Tage mit einer Frau zusammen sein kann, und sie ist zum ersten Mal in einen Mann verliebt. Doch die Gesellschaft, die in der Geschichte von der Mutter repräsentiert wird, läßt das nicht zu.

Solche Situationen zu spielen, vor allem in einem so schonungslosen Film wie „Passion Beatrice“, macht das eine Schauspielerin nicht sehr verletzbar?

Bertrand Tavernier ist ein sehr, sehr netter Mann. Er half mir während der Dreharbeiten ungeheuer, weil er wie ein Vater zu mir war. Ein guter Vater, nicht wie die Figur im Film! Volker half mir ebenfalls sehr, denn er wußte, daß die Rolle der Sabeth sehr anspruchsvoll ist. Manchmal braucht man als Schauspielerin den Schutz des Regisserus, andernfalls hätte man das Gefühl, ohne Netz auf dem Trapez zu stehen. Man kann dann schwierigere Dinge machen und ist wagemutiger. Ich habe auch Regisseure erlebt, die anders waren.

Waren Sie sehr enttäuscht, als Passion Beatrice so heftig kritisiert wurde, nicht nur in Frankreich, sondern eigentlich überall?

Ja, sehr, denn es ist ein großartiger Film.

Tavernier hält ihn für seinen besten Film.

Ja, Bertrand liebt ihn sehr. Ich glaube, er ist einfach deshalb ange

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griffen worden, weil er ein Tabu- Thema behandelt. Inzest ist ein Thema, mit dem sich niemand wirklich beschäftigen will. Die Leute regen sich furchtbar auf, wenn sie sehen, daß ein Vater auf der Leinwand mit seiner Tochter schläft. Aber daß wir Soldaten in den Irak schicken und dort Krieg führen, das regt niemanden auf! Wenn ich es recht bedenke, habe ich immer in Filmen mitgespielt, die schwierig waren fürs Publikum oder kontrovers aufgenommen wurden. Ich liebe Schwierigkeiten. Dabei, glaube ich, ist der letzte Film nicht so schwierig.

„Homo Faber“ wirkt eher traditionell.

Ich mußte an alte Douglas-Sirk- Filme denken, als ich ihn sah?

Sirk? Das ist interessant.

Wegen der Farben und des Lichts. Und an Godard habe ich denken müssen. Die Bilder gefallen mir sehr.

Godard? Das ist ein ebenso überraschender Vergleich. Aber erzählen Sie mir ein bißchen über die Arbeit mit Godard. Gehört er zu den Regisseuren, die „anders“ waren?

Nein, ich habe mich sehr wohl gefühlt als Schauspielerin. Manchmal ist er sehr aggressiv, aber immer witzig. Er besitzt einen ganz eigenen Humor, und deshalb wirkt seine Aggressivität auch eher konstruktiv, weil sie gegen niemanden gerichtet ist. Er ist ganz anders als [Leos] Carax, mein Regisseur bei Mauvais Sang [„Die Nacht ist jung“], der sehr destruktiv ist im Umgang mit den Schauspielern. Carax ist übrigens mein Partner in King Lear von Godard, er spielt meinen Liebhaber. Aber ich glaube, der Film ist bei Ihnen in Deutschland nicht gelaufen.

Nein. Ich denke, der war kaum irgendwo auf der Welt zu sehen.

Das ist schade, denn das ist ein großartiger Film. Auch die Dreharbeiten zu Detective waren toll. Es herrschte eine ziemlich chaotische Atmosphäre auf dem Set, alles war ziemlich verrückt. Wir haben den Film in einem Hotel gedreht und Godard bestand darauf, daß alle dort wohnten. Wenn man also in der Drehpause einen kurzen Mittagsschlaf halten wollte, mußte man das in einem der Zimmer tun. Alle verhielten sich dann auch wie die Figuren im Film, jeder schien gegen jeden zu kämpfen, alle schrien sich auf den Korridoren an. Wir benahmen uns wie Verrückte.

Ich nehme an, das gefiel Godard ganz gut.

Ja, und irgendwie war es ja auch eine sehr angenehmen Atmosphäre zum Drehen.