Kosmischer Atem

■ Paulus Böhmers neuer Gedichtband „Da sagte Einstein“

Vor drei Jahren erschien Paulus Böhmers Darwingrad, Gedichte aus 22 Jahren. Dieser fulminante, großformatige Gedichtband stand damals schon wie ein einsamer Meilenstein in der jüngeren Lyrikgeschichte. Die Kritik war, sofern sie das Buch überhaupt wahrnahm, euphorisch. Man sah in Böhmers Langgedichten „die Antwort auf Brinkmanns späte Gedichte“ ('Konkret‘), erkannte in Böhmer einen Verwandten der Vorsokratiker, von Rabelais, Ginsberg und Höllerer ('Süddeutsche Zeitung‘) und attestierte ihm „pralle, strotzende, ekstatische Verse“ ('Frankfurter Rundschau‘). Bekannt ist der Frankfurter Dichter und Maler trotzdem nur einer kleinen Schar von Insidern. Wenn Volker Hage einmal im Jahr in der 'Zeit‘ eine Auflistung der wichtigsten seiner dichtenden Kollegen vornimmt, fehlt Böhmers Name immer. Woran mag das liegen?

Böhmer verstört, verweigert sich mit seinen bilderreichen Langgedichten eindeutigen Interpretationen und ist mit seinen poetisch-assoziativ organisierten Rebussen in keinster Weise konsumentenfreundlich. Wer nicht bereit ist, sich mit seinem ganzen Wissen und im Vertrauen auf das Unbewußte in die Gedichte Böhmers einzubringen, wird mit ihnen kaum etwas anzufangen wissen. Nacherzählen kann man diese Gedichte nicht, aber wer die Bilder von Hieronymus Bosch kennt, kann sich eine ungefähre Vorstellung von dem machen, was in ihnen vorkommt und geschieht.

Böhmer verhält sich zum Gros der zeitgenössischen Dichter wie der Filmemacher Jean-Luc Godard zum konventionellen Erzählkino. Wenn solche Vergleiche gestattet wären, würde ich sagen: Nouvelle Vague und Da sagte Einstein sind Seelenverwandte. Böhmer ist wie Godard ein originärer Solitär, dessen Texte sich im Zustand und unter Einfluß polymorpher Assoziationen befinden. Die Gedichte von Böhmer haben keine erzählerische Zentralperspektive, keine anthropozentrische Hierarchie, kein Zeitkontinuum. Man könnte sie als Al-fresco-Arbeit aus Zitaten, Verweisen, Allusionen, mehrsprachigen Versatzstücken, Anleihen aus der Popkultur und Partikeln des Universalwissens bezeichnen und am ehesten mit einem Begriff von Ezra Pound schubladisieren: „Prosa-Kino“.

Was nicht bedeutet, daß Böhmer zu denen gehört, die in Verse gehackte Prosa schreiben. Wenn man sich dem Sog seiner Gedichte anvertraut, dann kann man den rhythmischen Strom der in wechselnder Spannung zueinander stehenden Verse spüren, hört den ihnen eigentümlichen Atem, kommt der Melodik der Assonanzen, Alliterationen und oft bis zur Unkenntlichkeit verwischten, polyphonen Reime auf die Spur. Reduplikationen ganzer Verse geben den Gedichten ein wenig Song.

Wie Julian Przybós will Böhmer mit seinen Gedichten neue semantische Räume erobern, seine Dichtung benennt also nicht, sondern sie schafft. Die Gedichte Böhmers folgen einem freien Gedankenflug, haben jedoch nichts mit der „écriture automatique“ der Surrealisten zu tun. Sie sind vielfach überarbeitete Texte und genau komponiert. Das Alogische, das Chaos, das Aufreißen der tradierten Ordnungen ist bei Böhmer wohlkalkuliertes und durchdachtes Programm. Er folgt da, im Hinblick auf den Rezipienten, der Rhizom-Theorie von Gilles Deleuze und Félix Guattari, derzufolge das Rhizom, im Gegensatz zu zentrierten Systemen, in denen hierarchische Kommunikation und von vornherein festgelegte Verbindungen herrschen, ein nicht hierarchisches und nicht signifikantes System ohne General, organisiertes Gedächtnis und Zentralautomat ist. Das Rhizom ist „einzig und allein durch die Zirkulation der Zustände definiert“. Man schickt zum Beispiel Informationen aus und vertraut darauf, daß sie irgendwann und irgendwo Bedeutung erlangen werden. Ihre Botschaft, die sie natürlich gleichwohl haben, ist ausgerichtet auf die „letzte Instanz“ (Przybós), in der der Autor die Wahrheit, die Grundwahrheit seines Schicksals, unabhängig von Stimmungen, sagen muß.

„Im Rhizom geht es um ein Verhältnis zur Sexualität, aber auch zu Tier und Pflanze, zu natürlichen und künstlichen Gegenständen, [...] um 'Werden‘ aller Art“ (Deleuze/Guattari). Das Gedicht Mein erster Tod, das auch als bibliophile Einzelpublikation erhältlich ist, kann man lesen als große Anklage gegen die Krankheiten der Zivilisation, als apokalyptischen Abgesang auf die verheerenden Auswirkungen der modernen Errungenschaften auf Mensch und Natur. In seiner poetischen und politischen Bedeutung muß man dieses Gedicht gleichberechtigt neben Allen Ginsbergs Howl stellen. „Einst entzündete eine Infektion aus dem All/ das Leben: Pflanzen, Tiere, Menschen entstanden — eine Epidemie./ Und ich sah keinen, der furchtlos auf die letzte Reise ging,/ die Torheit lobend, lachend der Eskapaden, nein,/ viele schrieen, wie wenn Engel ihnen auf die Zunge pißten, reißenden/ Jägern platzten die Hoden, eine Jauche aus Gier ergoß sich/ Kinder, aus engen Boxen gezerrt, brüllten, Hohlnadeln/ drangen ins Herz, kein Mäulchen entkam dem Chlorid.“

In seinem Gedicht Kaddish stimmt der „deutsche Dichter mit dem weitaus größten Wortschatz“ (Christoph Meckel) in weitgespanntem Bogen einen Sterbegesang an für „die lange letzte Sekunde“. Kaddish ist aber auch ein Requiem auf die Sprache, die ihre kommunikativen Möglichkeiten eingebüßt hat. „Für das weiße Rauschen der Sprache,/ klebend an Dei-Dei, an Chers stäbchenförmigen/ Bakterien, die wie der Mississippi versiegen, an oszillierenden/ Schameingängen, Hefe- Extrakten,/ an Punkten, Linien, Trajektorien der Newtonschen Mechanik, taub/ gegen Musik, gleichgültig gegen/ Hoffnungen, Leiden, Verbrechen.“

Ähnlich wie der amerikanische Prosa-Avantgardist Don DeLillo ist Böhmer der Überzeugung, „daß manche Wahrheiten nicht so leicht zu finden sind und daß das Leben immer noch voller Geheimnisse ist“. Sprache als zentrales Instrument der Selbst- und Weltvergewisserung versagt heute aber immer mehr aufgrund der als gefährlich erlebten Diskrepanz zwischen Wörtern und ihren Bedeutungen. Um den entropisch verfallenden Sprach- und Weltstrukturen Herr zu werden, müssen subtile Veränderungen im Verhältnis von Zeichen und Bedeutung vorgenommen werden. Neue Sinnzuschreibungen bilden die Voraussetzung für den Gebrauch des Wortes als Waffe.

Was für DeLillo gilt, kann man auch auf Böhmer anwenden. Sabine Reeh schreibt im neuen Schreibheft in ihrem Essay über DeLillo: „Die „,Geheimnisse des Lebens‘ liegen für ihn jenseits von Logik und Rationalität, jenseits von linearem Denken und monokausalen Erklärungsmustern, ihre Offenbarung vollzieht sich jenseits der Prinzipien abendländischer Sinnkonstitution.“

Böhmer, ein „Enzensberger mit Unterleib“, wie ihn Arnfried Astel einmal apostrophiert hat, ist für mich die derzeit bedeutendste lyrische Stimme, zumindest im deutschsprachigen Raum. Mit seinen Gedichten führt er die Linie der großen Avantgardisten der Moderne fort. Seine Texte sind keine schöngeistige Erbauung, kein politisches Pamphlet, sie sind harte Arbeit für den Leser. Arbeit, die für ständige Unruhe sorgt. „Kiesbänke lächeln. Eine Mundhöhle ist die Welt,/ darin sich der Abend sammelt,/ Todesschreie und Amseln.“ Wolfgang Rüger

Paulus Böhmer: Da sagte Einstein. Gedichte 1987-1989. Anabas- Verlag, 118 Seiten, 20 DM