INTERVIEW
: „Wir müssen das Geheimnis wegzerren“

■ Der 1977 aus der DDR ausgebürgerte Schriftsteller Jürgen Fuchs gehört zu denen, die die Namensveröffentlichung hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter öffentlich befürworten

taz: Namen von Stasi-Mitarbeitern zu veröffentlichen, das riecht nach Denunziantentum. Und gerade davon hat die DDR doch in ihrer Geschichte genug gehabt.

Fuchs: Denunziantentum ist ja eigentlich der Hauptberuf von denen gewesen, die in den Listen veröffentlicht sind. Ich finde es wichtig und fast witzig, daß diese Liste nach Gehaltsstufen geordnet ist. Wenn man die Gehälter anguckt, sieht man, daß es Leute sind, die eine Menge verdient haben und hohen Einfluß hatten. Das sind Menschen des öffentlichen Interesses. Von dem, was sie getan haben, ist es für mich ein ganz wichtiger Beitrag, ihr Geheimnis wegzuzerren. Das Geheimnis muß weg, ihre Macht muß gebrochen werden.

Haben diese 100.000 Stasi-Leute, die auf der Liste stehen, denn wirklich noch eine Macht, die man brechen muß?

Ja, ich habe den Eindruck, das verstärkt sich. Diese Geheimniskrämerei, daß man nicht Bescheid weiß, wer an den Befehlsstrukturen dieses Staates beteiligt war, wer auch im ökonomischen Bereich was zu verantworten hat, bringt eine ganz tiefe Beunruhigung in die Bevölkerung. Und ich befürchte, daß neben der ökonomischen und der ökologischen Katastrophe eine sozialpsychische Katastrophe hinzukommt, wenn diese Geheimniskrämerei fortgesetzt wird. Ich bin dafür, daß die Betroffenen eine volle Akteneinsicht erhalten, damit der enorme Informationsvorsprung, den diese Spitzen-Stasi-Mitarbeiter haben, wegfällt. Dabei geht es keinesfalls um Rache, um Fertigmachen, um Denunzieren, sondern es geht darum, die Menschen in die Verantwortung zu bringen, die in den vergangenen Jahrzehnten Verantwortung hatten.

Aber wie wollt ihr verhindern, daß es doch so etwas wie eine Hexenjagd und ganz persönliche Racheaktionen gibt?

Bis jetzt gab es ja keine Hexenjagd, im Gegenteil. Wir haben es zu tun mit einer enormen Gehemmtheit an Aggressivität. Diese Volkserhebung in der DDR war verbunden mit einer vollkommenen Gewaltfreiheit, die fast ein wenig gespenstisch ist. All diese besorgten Fragen — was passiert jetzt im Einzelfall — sind zwar berechtigt, weil keiner weiß, was in den nächsten Wochen und Monaten geschehen wird. Und man kann nur noch einmal auffordern, die Gewaltfreiheit unbedingt beizubehalten. Auf der anderen Seite gibt es eine strukturelle Gewalt, die gerade aus diesem Nicht-zu-den-Dingen-stehen wächst. Das ist auch eine Form der Gewalttätigkeit, eine politische Gewalttätigkeit, die in das Soziale und Psychische der Betroffenen hineingeht, und das ist in diesem Fall eine gesamte Gesellschaft.

Gibt es in der ehemaligen DDR denn überhaupt noch eine öffentliche Diskussion über das Thema Stasi? Die Menschen haben doch im Moment jede Menge ökonomische und soziale Probleme, so daß kaum damit zu rechnen ist, daß anhand der Namensliste eine öffentliche und nicht nur eine private Aufarbeitung stattfindet.

Natürlich haben die Menschen jetzt sehr viele Sorgen. Aber wir sind noch im Schock des ersten Augenblicks. Diese Erinnerung, die jetzt ansteht — erinnern wir uns auch an 1945 —, ist ein sehr mühsamer Prozeß. Das ist auch ein Gegenprozeß, denn die Erkenntnis und die Erinnerung sind gegen etwas gerichtet, was man lieber hat: die Harmonie. Aber man kann keine demokratische und humane Orientierung gewinnen, wenn man nicht die Qual der Erinnerung zuläßt.

Wo würdest du persönlich die Grenzen ziehen, in welchen gesellschaftlichen Bereichen sollen ehemalige Stasi-Mitarbeiter noch tätig sein dürfen?

Ich bin zum Beispiel ganz dagegen, daß Leute wie Tisch und Mielke im Gefängnis sitzen. Diese Leute sollen sich in Kleingärten bewegen, aber sie sollen öffentlich Rede und Antwort stehen müssen. Zur Frage, was ist mit den einzelnen, den Menschen: Es sind zuerst Menschen, Menschen wie wir. Keiner von uns — auch ich nicht — hätte ausschließen können, daß er in solche Biographien hineingeht. Das Wichtigste an der humanen Orientierung ist, sich auch klarzumachen, daß man der andere hätte sein können — und umgekehrt. Wichtig ist festzuhalten, daß auch die Betroffenen, die lange Zeit zumindest sozial und politisch mißhandelt wurden und Gewalt erlebt haben, ihrerseits kein Recht haben zu Gewalt und kein Recht, sich zum Richter aufzuschwingen. Stasi- Mitarbeiter sind Menschen, die mit uns leben werden. Wir können uns überhaupt nicht dieses Ausgrenzen, Wegdenken, Wegmachen dieser Mitmenschen leisten. Nur: Diese Geheimniskrämerei, dieses Dunkel, diese Lüge muß unbedingt beendet werden, um überhaupt eine Normalität der Begegnung, eine Begegnung in Augenhöhe und Fairneß herzustellen. Wir kommen aus Zeiten, wo Leute wie de Maizière Ministerpräsident waren und Leute wie Böhme sich um höchste Ämter beworben haben. Die Informellen Mitarbeiter der Stasi haben in der Vergangenheit das Sagen gehabt.

Also auch die Namen der Informellen Mitarbeiter abdrucken?

Das Beste wäre, diese Menschen würden sagen, was ist. Dieser Gestus des zusammengepreßten Mundes, dieses Abwiegelnde, dieses schrecklich Erinnerungslose, dieses Unehrliche, das aus Leuten wie de Maizière spricht, muß aufhören. Interview: Vera Gaserow