„Der Staat agiert wieder gegen den Bürger“

Die Veröffentlichung der Namen der Stasi-Mitarbeiter in der Zeitung 'die andere‘ verdeutlicht die Enttäuschungen der Bürgerbewegung/ Herausgeber Klaus Wolfram: „Die kühle Ahnungslosigkeit von oben erzwingt die Selbsthilfe von unten“  ■ Aus Berlin Wolfgang Gast

Der Bundestagsabgeordnete Konrad Weiss brachte es auf den Punkt: Ginge die Bundesregierung anders mit der Stasi-Hinterlassenschaft um — keiner hätte sich veranlaßt gesehen, die Liste der hauptamtlichen Mitarbeiter des früheren Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zu veröffentlichen. „Aufarbeitung ist Aufdecken, ist Stellungnehmen und zur Stellungnahme zwingen“, schreibt auch Klaus Wolfram, Herausgeber der Ostberliner Wochenzeitung 'die andere‘.

Auf deren Sonderseiten in der neuesten Ausgabe sind die Daten der führenden 2.000 Mitarbeiter des MfS veröffentlicht worden. Der Nachlaß des Repressionsapparates Staatssicherheit, des „besten deutschen Geheimdienstes“, solle nun nach dem Willen der Bonner Koalition von der „zweitbesten“ geheimen Behörde verwaltet werden. Die Spezialisten von oben, schimpft er weiter, verbündeten sich gegen die Betroffenen von unten, „der Staat agiert wieder gegen den Bürger“, und statt des Erbes der friedlichen Revolution „wird das Instrumentarium der Macht geschützt“.

Der Schritt der 'anderen‘, die sich selbst als eine der Bürgerbewegung nahestehende Zeitung versteht, folgt am Ende einer langen Kette von Enttäuschungen. Keine der bisherigen Regierungen, weder in DDR-Zeiten unter den Regierungschefs Hans Modrow (PDS) oder Lothar de Maizière (CDU) noch unter Bundeskanzler Helmut Kohl bekamen die BürgerInnen der fünf neuen Bundesländer eine vollständige Übersicht über die Strukturen des MfS. Ein Rehabilitierungsgesetz für die Opfer der Staatssicherheit steht immer noch aus, eine Akteneinsicht ist immer noch nicht geregelt, und die früheren Mitarbeiter der Bürgerkomitees mußten feststellen, daß sie während des Auflösungsprozesses von früheren Stasi-Leuten vielfach über den Tisch gezogen wurden. Und die alten Stasi-Seilschaften — so fürchten es viele — sind immer noch intakt. „Die kühle Ahnungslosigkeit von oben“, schreiben die Autoren, „erzwingt die Selbsthilfe von unten.“ Die Arbeitsbedingungen der Bürgerkomitees und auch die des Stasi-Sonderbeauftragten Jochen Gauck hätten sich ständig verschlechtert, deshalb habe man sich entschlossen, die Liste mit ihrer Veröffentlichung den Geheimdiensten als Herrschaftsinstrument zu entziehen. Die BürgerrechtlerInnen mußten verfolgen, wie Bonner Politiker und Leiter verschiedener Behörden den Zugriff der Geheimdienste auf die Stasi-Unterlagen immer drängender forderten. Der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte, dürfte die Erfolgsmeldung der westdeutschen Verfassungsschützer gewesen sein, die sich rühmten, im Besitz der gesamten Gehaltsliste der Stasi für 1989 zu sein. Genau das hatten die BürgerrechtlerInnen verhindern wollen. Nur wenige Tage vor der feierlichen Unterzeichnung des Einigungsvertrages hatten sie mit ihrer Besetzung der ehemaligen Stasi- Zentrale in der Berliner Normannenstraße durchgesetzt, daß die Hinterlassenschaften der Stasi keinesfalls von Geheimdiensten benutzt werden dürften.

Die Reaktionen auf ihre Veröffentlichung beschreiben die MacherInnen der 'anderen‘ als durchweg positiv. Gestern, am Tag der Auslieferung, war die Ausgabe bereits ausverkauft — und keine einzige Beschwerde sei in der Redaktion eingegangen. Auf einen wirtschaftlichen Erfolg hat die Basiszeitung verzichtet, es wurden nur 5.000 Exemplare mehr als üblich gedruckt. Weitere Listen sollen in den beiden nächsten Ausgaben folgen. Dann sind von oben nach unten die Namen der Stasi- Leute bekannt, die jährlich ein Salär von über 30.000 Mark eingestrichen haben, was in etwa dem Dienstrang eines Kreisdienststellenleiters entspricht.

An eine Hetzjagd auf die Ehemaligen der Stasi, wie sie beispielsweise bei der taz-Veröffentlichung der Liste der Stasi-Objekte am 18. Juni letzten Jahren befürchtet wurde, glaubt heute keiner mehr. Wichtig ist heute, wo und welche der Offiziere ihre Privilegien über die deutsche Einheit retten konnten. Im Ostberliner Stadtteil Hohenschönhausen residieren beipielsweise die Spitzenoffiziere der Staatssicherheit immer noch in ihren alten Villen. Lediglich die Namensschilder wurden abgeschraubt, die Nachfragen der Komiteemitarbeiter über die Besitzverhältnisse beim Liegenschaftsamt blieben bisher unbeantwortet. Empört mußten die BürgerInnen der neuen Bundesländer auch verfolgen, wie ehemalige MfS-Mitarbeiter in Zeitungen offen mit ihren „operativen“ Erfahrungen inserierten und anschließend bei verschieden Wachdiensten bevorzugt eingestellt wurden. Die Frage: „Wohin mit den Ehemaligen der Staatssicherheit?“ (ein Prozent aller Beschäftigten in der DDR und zwölf Prozent aller Staatsgehälter) ist immer noch ungeklärt. Im großen Stil werden zur Zeit die Ex-MfSler, die nach der Wende anderswo unterkamen, insbesondere im öffentlichen Dienst, gekündigt. Der soziale Zündstoff ist den Behörden bekannt. Sie ordneten bereits an, daß die alten Jagdscheine nicht mehr verlängert werden und die Jagdwaffen eingezogen werden.