In dumpfer Kontinuität der Vorurteile

■ Richard Plant, ein aus Deutschland Vertriebener, beschreibt die Verfolgung der Homosexuellen im Dritten Reich/ Noch immer ein blinder Fleck im Rückblick auf den Faschismus/ Wer von den Homosexuellen die Lager überlebte, war noch lange nicht befreit/ Die Stigmatisierung lebte fort

Der gelbe „Judenstern“ ist nach dem Ende des Dritten Reiches vom Schandmal zu einem Symbol der Erinnerung an jene Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung geworden, die unter der Herrschaft des deutschen Faschismus alle zu erleiden hatten, die in der nationalsozialistischen Ideologie als „Volksschädlinge“ galten.

Doch die Stigmatisierung hatte noch andere Farben und Formen, die nicht in diesem Maße im sozialen Gedächtnis bewahrt sind, weil ihre Signalwirkung auf den schon ausgegrenzten Raum, die Zwischenwelt der „Lager“ beschränkt blieb: rote Dreiecke an den Häftlingsjacken kennzeichneten die politischen Gefangenen, Grün trugen die sogenannten Kriminellen, Schwarz die „Asozialen“, Braun die „Zigeuner“ — und den rosa Winkel die Homosexuellen.

Rosa Winkel ist der Titel eines Buches des amerikanischen Autors Richard Plant, das jetzt auf Deutsch vorliegt. Plant bemüht sich um eine populäre Darstellung und Erklärung der Schwulenverfolgung im Dritten Reich; und er weiß, wovon er spricht. Er ist in Frankfurt am Main geboren und aufgewachsen, und auch wenn er zu den Glücklichen gehört, denen rechtzeitig die Flucht gelang — die bittere Erfahrung, aus dem Exil hilflos zusehen zu müssen, immer neue Schreckensnachrichten von den Zurückgebliebenen zu erhalten, hat ihn nachhaltig beeindruckt.

Dieses biographische Moment seiner Auseinandersetzung mit dem Thema macht Plant in einer Art Rahmenhandlung des Buches deutlich: Er schildert, wie ihn in den frühen fünfziger Jahren seine Nachforschungen über das Schicksal verschollener Jugendfreunde in die Archive des „Internationalen Suchdienstes“ nach Arolsen führten, wie die Einsicht in die Lagerakten und die Gespräche mit Überlebenden ihm das ganze, ungeahnte Ausmaß der Verfolgung deutlich machten, wie er beschloß, seinen Beitrag zur Aufklärung zu leisten. Erst Jahrzehnte später realisiert er diese Absicht, und es sagt viel über den Umgang mit dem Problem, daß dieser Beitrag auch heute noch wichtig und notwendig ist.

Obwohl am Ende der Weimarer Republik eine respektable Bürgerrechtsbewegung für die Legalisierung und zivile Anerkennung der schwulen Subkultur bestanden hatte, gehörten die Homosexuellen nicht zu den Opfern des Faschismus, die nach der „Befreiung“ Anklage erhoben und ihre Ansprüche auf Rehabilitierung geltend machten.

Es gab eine Reihe schlechter Gründe für dieses Verhalten. Zum einen fehlte es ihnen am weltanschaulichen „Hinterland“ — ihre Organisationen, etwa das „Wissenschaftlich-humanitäre Komitee“, waren gründlich zerschlagen, die Protagonisten, wie Magnus Hirschfeld oder Kurt Hiller, vertrieben worden.

Den institutionellen Rückhalt, auf den sich andere Verfolgte, Sozialdemokraten, Kommunisten, Juden und Christen in der deutschen Nachkriegszeit beziehen konnten, gab es für die Homosexuellen (wie auch für „Zigeuner“, „Asoziale“ und „Kriminelle“) nicht. Es kam die dumpfe Kontinuität der Vorurteile, des „Volksempfindens“ hinzu, die aggressive Abwehrhaltung, die weiterhin das Verhältnis der Mehrheit zu jeder Art der Abweichung, auch der sexuellen, bestimmte.

Zweifelhafte Seitenbemerkungen

Die DDR hob die nationalsozialistische Verschärfung des sogenannten Homosexuellen-Paragraphen 175 immerhin schon 1950 auf, die BRD erst 1969. Aber das Stigma blieb. In beiden deutschen Staaten wurde den homosexuellen Lagerinsassen keine finanzielle Wiedergutmachung gewährt.

So kann es nicht verwundern, daß es in den Nachkriegsjahren keine persönlichen oder wissenschaftlichen Einlassungen zu diesem Thema gab. Auch im Rahmen der Faschismusforschung ist das Schicksal der Homosexuellen lange Zeit souverän ignoriert worden — von kursorischen Erwähnungen und zweifelhaften Seitenbemerkungen abgesehen.

Erst der Soziologe Rüdiger Lautmann hat seit 1977 in empirischen Studien und verschiedenen theoretischen Erwägungen sich dem Problem zugewandt. Der erste autobiographische Bericht aus dem Schattenreich der Lager war 1972 erschienen: Heinz Hegers Die Männer mit dem Rosa Winkel. Eine umfassende wissenschaftliche Darstellung steht wohl noch aus — als redlicher Versuch kann das Buch von Hans-Georg Stümke Homosexuelle in Deutschland (München 1989) gelten; auch wenn diese Arbeit an ihren Flüchtigkeiten und ihren Anflügen von zweifelhafter Apodiktik krankt.

Richard Plant, der an der „New School of Social Research“ in New York lehrte und im 'New Yorker‘ und der 'New York Times‘ publizierte, hat sein Buch zuerst für den bei diesem Thema betrüblich ignoranten und falschinformierten 'general reader‘ in den USA geschrieben. Doch seine Bemühung um populäre Darstellung eines unpopulären Gegenstands hätte leider ebensosehr dem deutschen Publikum gelten können.

Zu Beginn seiner Arbeit rekapituliert er die Mühen und Erfolge der Homosexuellenbewegung in der Weimarer Republik; ihre Zerschlagung und den Beginn der systematischen Schwulenverfolgung ab 1933. Plant zeigt sich fasziniert von der ausgeprägten Homophobie, die in der nationalsozialistischen Bewegung eine wichtige Rolle spielte. Was in der Röhm-Affäre noch als kalkuliertes Mittel zum politischen Zweck gelten mag, erscheint zwingender und grundsätzlicher in der Person Himmlers, des „Großinquisitors“ der Vernichtungsprogramme. Diesem pedantischen Sonderling an der Spitze eines gewaltigen Machtapparats widmet Plant ein eigenes Kapitel, aber er versäumt auch nicht darauf hinzuweisen, daß die alltägliche Praxis des Terrors gegen die Homosexuellen weder der privaten Obsessionen und Phobien der Führer noch der Ideologie der systematischen Vernichtung bedurfte — es genügte das eingeübte, gewöhnliche Ressentiment.

In den Lagern herrschte dann die Logik der Endlösung, aber zugleich und überdies noch die tradierte Vorurteilsstruktur. Diesem Phänomen versucht Plant im letzten, im wichtigsten Teil des Buches, gerecht zu werden. Er stützt sich dabei auf seine eigenen Interviews und Recherchen und auf die inzwischen erfolgte Bestandsaufnahme (etwa durch Lautmann).

Auch im „anus mundi“, in der Lagerhölle, war die Normalität offenbar nicht gänzlich außer Kraft: Für die homosexuellen Insassen bedeutete dies die fortgesetzte Diskriminierung. Schwule Häftlinge waren die Parias in der Opfergemeinschaft, verachtet selbst von ihren Schicksalsgenossen. Und selbstverständlich auch von ihren Peinigern: Sie wurden zu den schwersten Arbeiten herangezogen, zu medizinischen Experimenten mißbraucht — die Sterblichkeitsziffern waren überdurchschnittlich hoch.

Wer überlebte, war nicht befreit wie andere und durfte nicht so freimütig Anklage erheben und Genugtuung fordern. Nicht zuletzt darum ist das Buch von Richard Plant auch noch 1991 ein wichtiger Beitrag zur Aufklärung. Edgar Peinelt

Richard Plant: Rosa Winkel. Der Krieg der Nazis gegen die Homosexuellen. Aus dem Englischen von Danny Lewis, Campus, Frankfurt a.M., 1991, 230 Seiten, 34,00 DM