Sowjetische Kumpel kochen vor Zorn

Der Streik der Bergarbeiter weitet sich aus/ Miserable Lebensbedingungen / Die politischen Forderungen der Kumpel gewinnen an Bedeutung/ Unionsführung zeigt sich unfähig einzulenken  ■ Aus Moskau K.-H. Donath

„Warum hauen Sie nicht ab? Sie gehen mir auf die Nerven. Gehen Sie zu Ihrer...“ und dann folgte ein Vulgarismus für ein weibliches Geschlechtsorgan. Es war Michail Schschdanow, der Unionskohleminister, der sich auf diese Weise den unliebsamen Fragen eines Fernsehjournalisten im Streikgebiet von Kemerowo entledigen wollte. Er verunglimpfte nicht nur den Fernsehreporter (und die Frauen, das spielt in der UdSSR aber keine Rolle), sondern empfahl sich zugleich dem sibirischen Fernsehpublikum als ein ernstzunehmender Verhandlungspartner. Das Interview ging nämlich unzensiert in den Äther. Dafür sorgte der lokale Fernsehchef Mitjakin. Er wollte seinen Zuschauern damit eins beweisen: Um ihre Nähe zum Volk zu demonstrieren, bedienen sich die Apparatschiks hemmungslos einer Fäkal- und Genitalsprache. „Sie glauben, dies sei schon alles, was Demokratie ausmache.“ Herrschte in der UdSSR noch das Gesetz, würde der Kohleminister dafür 15 Tage einfahren, in den Bau versteht sich.

Die Front der streikenden Bergarbeiter weitet sich indes immer weiter aus. Insgesamt wurden gestern von der polnischen Grenze bis Sibirien 165 Gruben bestreikt, mit rund 300.000 Kumpel im Ausstand. Anfang März hob der Streik vornehmlich noch auf ökonomische Forderungen ab. Da die Zentrale aber sich nicht willens zeigte, mit den Vertretern der Streikkomitees zu verhandeln, haben die politischen Forderungen seither an Bedeutung gewonnen. Präsident Gorbatschow lehnte es ab, Abgeornete der Streikkomitees überhaupt zu empfangen. Stattdessen traf er mit Volksdeputierten aus den Krisengebieten zusammen, die nicht unbedingt die Haltung der Bergarbeiter unterstützen. Das hat die Kumpel zur Weißglut gebracht. Im Moskauer Hotel „Rossija“ traten sieben Bergleute aus Kemerowo in den Hungerstreik.

Anfang der Woche fand in Moskau ein Koordinationstreffen aller Streikkomitees und Vertreter freier Gewerkschaften statt. Sie richteten an alle Arbeiter des Landes einen Aufruf, ihre politischen Forderungen mit zu unterschreiben. Sie verlangen den sofortigen Rücktritt Gorbatschows und des gesamten Ministerrates. Außerdem soll der Kongreß der Volksdeputierten aufgelöst werden. Stattdessen verlangen sie, die politische Macht solle an den Föderationsrat und die Obersten Sowjets der Republiken übergeben werden. Wladimir Minjenko vom Streikkomitee im ukrainischen Donbass brachte es der taz gegenüber auf den Punkt: „Es geht nicht mehr nur um ökonomische Forderungen, sondern um die Verbesserung unseres gesamten Lebens.“ Sein Kollege aus dem Kusbass sieht es ähnlich: „Wir brauchen nicht ein Stückchen Brot sondern eine Änderung des politischen Systems, damit wir unser Brot selbst verdienen können.“

Obwohl die Zentrale in Moskau nach den Streiks im Sommer 1989 den in erbärmlichen Verhältnissen lebenden Grubenarbeitern grundlegende Besserungen zugesagt hatte, ist kaum etwas geschehen. Die Arbeiter erhalten nur die Hälfte der notwendigen Kalorien. Minjenko hofft auf Solidarität aller Industriearbeiter: „Wenn am 2. April die Preiserhöhung in Kraft tritt, wird sich die Lage in der UdSSR nicht mehr steuern lassen.“ Unterdessen nehmen dier „alten Mächte“ den Kampf auf. Im Kohlerevier Lugansk mußten Schulkinder ein Diktat schreiben, in dem es heißt: „Eure Eltern sind keine würdigen Menschen...“