„Die Notdurft am Deserteursdenkmal verrichten“

■ Vor dem WDR-Ü-Wagen in Bonn erhitzten sich die Gemüter über ein geplantes Deserteursdenkmal

Bonn (taz) — Nach der Sendung ging es erst so richtig los. Da sah sich WDR-Moderatorin Carmen Thomas von einem Knäuel älterer Frauen umringt, allesamt Kriegerwitwen oder Gattinnen noch lebender Wehrmachtssoldaten. Mehrheitlich schimpften sie auf Thomas ein, weil diese in den fast drei Stunden Live-Sendung zuvor (Hallo Ü-Wagen) den Befürwortern von Deserteursdenkmälern so viel Redezeit zugestanden hatte und selbst offenbar mit einer Ehrung der Fahnenflüchtigen sympathisiert. Immer wieder der Vorwurf der Erregten: Ihre Männer, die bis zum Schluß mitgekämpft hatten, mußten es damals ausbaden, daß die Kameraden sich gedrückt und verdrückt hatten. Eine besonders verbitterte: „Mein Mann liegt seit zwei Jahren krank im Bett, Kriegsfolgen von Stalingrad, verraten worden von eigenen Kameraden.“ Täter und Opfer werden schnell durcheinandergebracht in persönlicher Verbitterung. Das Thema Deserteure wird wohl noch kontrovers diskutiert werden, wenn von den Kriegsteilnehmern kein einziger mehr lebt. Gift und Galle auch live vom Bonner Friedensplatz: Ein Altkrieger sagte, er würde an einem Deserteursdenkmal „seine Notdurft verrichten“, es sei eine Verhöhnung und Provokation derer, die mitgemacht hätten bis zur Endniederlage. Graf Moltke, der für den Soldatenverband sprach, verharmloste die vielen überzeugten Deserteure, ach, die hätten doch nur mal „über den Zappen gewichst“, und überhaupt dürfe man nur solche ehren, die aus ehrlichen Gewissensgründen sich davongemacht hätten.

Auch Bonns OB Daniels, seit Jahren einer der Hardliner gegen ein Denkmal in seiner Stadt, wollte in gute und böse Deserteure einteilen — die einen wären nur feige gewesen, die anderen hätten Nazi-Widerstand in ihren Herzen getragen und seien deshalb, welch interpretationsfähiger Versprecher, „desertiert worden“. Die Gegenfrage der pfiffigen Thomas, ob diejenigen, die gefaßt wurden, auch unterschiedlich erschossen wurden, sah einen perplexen Daniels perfekt ausgekontert.

Aber bei allen Kontroversen, die über WDR 2 ins Land gingen — am spannendsten waren die Zwischentöne im Publikum und auch die stillen Reaktionen der vielleicht 300 ZuhörerInnen. Überall standen sie: die alten Männer mit den oft grauen Haaren, die sich meist still im Hintergrund hielten, die so neugierig gekommen waren, weil es hier um ihre oft unbewältigte Vergangenheit ging. Etwa 100.000 Deserteure waren es, 15.000 wurden hingerichtet. Nicht zu unterscheiden, wer denn Deserteur war oder Mitläufer oder wer heute noch nachträglich dauerhaft überzeugter Soldat ist. Welche Schicksale verbergen sich hinter den Gesichtern? Das Wort „Kameradenschweine“ fiel wie üblich, und ein anderer schimpfte, „die Iwans“ hätten sich doch gefreut über solche Verräter. Ja doch, sagte einer, bieder, und schüchtern wirkend, 'Bild‘-Zeitung in der Tasche, später 30 Jahre Polizist, wie er sagte, natürlich sei er abgehauen damals von der Verbrecher-Armee, vier Wochen hätten sie sich zu dritt durch die Wälder geschlichen, immer nachts, von Olpe bis hinter Bonn, zum Feind, der der Retter war. Aber ein ehrendes Denkmal: das sei doch nicht nötig: „Ich trage mein eigenes Deserteursdenkmal doch immer im Herzen, und das hält meine Seele bis heute in Schwung.“

Andere sind nicht abgehauen, weil sie nackte Angst hatten. Erschütternd erzählte einer sein Fronterlebnis: Ein Soldat war desertiert, gefaßt worden. Tags darauf ging er, vom Wehrmachtgeistlichen eskortiert aufs Feld. Dann mußte er sich mit eigenen Händen das sprichwörtliche eigene Grab schaufeln. Nach den tröstenden Worten des Priesters kam das Erschießungskommando seiner Aufgabe nach. „Wir verstehen das, wenn wir angefeindet werden“, sagte einer aus dem Bonner Friedensplenum, der sich — bislang vergeblich — um ein Denkmal für Bonn bemüht. Manche klatschten. Carmen Thomas erklärte: „Für die Hörer im Land möchte ich sagen, daß hier nur etwa ein Drittel geklatscht hat, nicht daß hier ein falscher Eindruck entsteht, alle würden so ein Denkmal befürworten.“ Das Publikum hatte die versteckte Aufforderung verstanden: Beim nächsten Anlaß prasselte der Beifall laut auf. Nur Graf Molkte sah sich bestätigt in seinen Ansichten: „Sie haben doch alle gesehen, daß hier höchstens ein Drittel für so ein Denkmal ist.“ Ausgetrickst durch einen klassischen Fall von selektiver Wahrnehmung. Unbewußt hier, bewußt, so darf vermutet werden, anderswo: Die brisante Sendung hatten Bonns Tageszeitungen nicht weiter für ankündigungswert befunden. Bernd Müllender