Ein glückliches, neues Jahr 2603

■ Berliner KurdInnen feiern »Newroz«, das Neujahrsfest/ Am 21. März befreiten sich die Kurden vor mehreren tausend Jahren von einem Tyrannen/ Das diesjährige Newroz ist geprägt von der Hoffnung auf ein befreites Kurdistan — und der möglichen Rückkehr

Spandau. Eigentlich müßte es lichterloh brennen. Die ganze Nacht bis zum Morgengrauen. Aber der Saal einer evangelischen Kirchengemeinde in Spandau setzt nun mal andere räumliche Zwänge als die kurdischen Berge. Auf das große Feuer, traditioneller Mittelpunkt des Newroz, des kurdischen Neujahrsfestes, müssen die Spandauer KurdInnen verzichten. Da steht die Brandschutzordnung davor. Dem Nachwuchs gefällt es dafür um so besser. Anlauf nehmen, lossausen und meterweit schlittern, am besten zu dritt oder zu viert oder gegeneinander: Das schönste für die Dreikäsehochs ist beim Newroz-Fest in der Spandauer Neustadt der Linoleumboden. Den Spaß daran läßt sich der Nachwuchs, teilweise mit traditionellen Gewändern herausgeputzt, auch von den traurigen Liedern zu Beginn des Abends nicht nehmen.

Für die Erwachsenen im Saal der evangelischen Luthergemeinde in der Schönwalder Straße steht der Beginn des neuen Jahres 2603 kurdischer Zeitrechnung unter gemischten Vorzeichen — vor allem für die KurdInnen aus dem irakisch besetzten Teil. Seit Beginn des Golfkrieges haben sie keinen Kontakt zu den Angehörigen in der Heimat. Ob sie den Krieg überlebt haben, ob sie geflohen sind, weiß keiner. Dennoch dominiert die Freude: Zum ersten Mal seit Jahrzehnten scheint die Befreiung zumindest eines Teiles ihres Landes, der Traum einer autonomen Region, in greifbare Nähe gerückt. Was viele NichtkurdInnen noch mit Skepsis betrachten — die militärischen Erfolge kurdischer Freiheitskämpfer im Norden des Iraks —, läßt hier viele in Gedanken bereits auf gepackten Koffern sitzen. Newroz, zu deutsch »neuer Tag«, ist das Fest, an dem das Gute das Schlechte, die Freude die Trauer, das Leben das Sterben und die Wärme die Kälte verjagt. Und das mag im Jahre 2603 vielleicht leichter gelingen als in den Jahren zuvor.

Über den Ursprung des Newroz existieren unterschiedliche Mythen, wobei die Kurden sich mit mehr oder weniger großen Abweichungen vor allem an folgende Version halten. Demnach ist Newroz aus einem Freiheitskampf vor mehreren tausend Jahren entstanden. Der Unterdrücker hieß in diesem Falle Dahak und war, der Sage nach, ein kurdischer Monarch. Auf seinen Schultern trug er immer zwei Schlangen mit sich, die mit den Gehirnen junger Männer gefüttert wurden. Jeden Tag wurden dafür zwei junge Männer getötet. Kaum eine Familie wünschte sich noch Söhne — aus Angst, sie könnten früher oder später geopfert werden. Unter der Führung des Schmiedes Kawa wagte das Volk schließlich den Aufstand. Am 21. März marschierte es mit Fakeln zum Schloß des Herrschers, machte es dem Erdboden gleich, tötete ihn und seine Schlangen. Seitdem wird der 21. März als der »neue Tag« gefeiert.

Die Tanzfläche füllt sich schlagartig, als die Musikgruppe, ausgestattet mit den traditionellen »def u zurna«, einer Kombination von Trommel und Blasinstrument, Tonart und Rhythmus wechselt. Ein Fingerschnippen von Aso Agace, Leiterin des »Hinbun« Nachbarschaftsladens für kurdische und türkische Frauen und gewissermaßen »Kiezoberhaupt« in der Spandauer Neustadt, zwei, drei Tanzschritte und der Neujahrsball ist eröffnet. Abgesehen von speziellen Vorführungen tanzen Männer und Frauen tanzen gemeinsam — »typisch kurdisch«, sagt Aso Agace. Man tanzt in langen Reihen, bildet Kreise — und gibt sich Mühe, dem Nachwuchs nicht auf die Füße zu treten, der ungebremst von elterlichen Ermahnungen quer durch den Saal tobt. Wohlgeratene Gören sind hier eindeutig lebhafte Gören.

Typisch Berlin: Multikulturell ist die Neujahrsfeier nur, was die anwesenden deutschen MitarbeiterInnen und ihre Freunde von diversen Beratungseinrichtungen der Nachbarschaft anbelangt. Ansonsten feiern die KurdInnen ihr neues Jahr unter sich. Das Fehlen des traditionellen Freudenfeuers scheint man zu verschmerzen, zumal dieses Mal noch ein lokales Jubiläum ansteht. Das Spandauer Newroz wird zum zehnten Mal gefeiert. Der Golfkrieg hat allerdings größere Vorbereitungen und Werbung für ein Jubiläumsprogramm vereitelt.

Kein einziges Gläschen Sekt, geschweige denn andere Alkoholika finden sich auf den Tischen im Saal. Gefeiert wird mit Cola, Fanta und Selters. Beim Essen allerdings hält man sich an das Nationalgericht: Cikofte, Bällchen aus Rinderhack, Weizen und Gewürzen werden in großen Mengen verspeist. Lediglich VertreterInnen der zweiten und dritten Generation werden beim Stehimbiß gegenüber gesichtet, um sich mit Pommes zu versorgen.

Auf dem Parkett dann plötzlich Tumult: Mitten im Auftritt der siebenköpfigen Tanzgruppe kurdischer Männer fliegen die Fäuste. Doch niemand schreitet ein, um die beiden Kampfhähne zu trennen. Im Gegenteil: Das Publikum klatscht und lacht, bis einer der beiden zu Boden geht. Ein aufreibender Schautanz zweier Verliebter um eine Frau. Die bleibt jedoch zunächst unbeachtet am Boden sitzen, weil sich die Rivalen unter Riesenjubel im Saal in die Arme fallen. Möglich sei ein solch getanztes Eifersuchtsdrama auch andersrum, sagt Aso Agace, die für die weibliche Rolle eingesprungen ist. »Mit den Geschlechterrollen nehmen wir es bei den kurdischen Festen nicht so genau.« Gegen 22 Uhr geht das Fest zu Ende. Tanzen bis in den Morgen — das wäre dem Gastgeber, der Luthergemeinde, doch etwas zu viel. Was bleibt, ist die Hoffnung, daß nächstes Jahr nicht mehr auf Linoleum getanzt wird, sondern um ein riesiges Feuer. Thomas Kuppinger/anb