Nie gesehen und doch vertraut

■ „Berkeley in the Sixties“, Samstag, West3, 22.40 Uhr

Manchmal beginnen die aufregendsten Jahre der Geschichte ganz banal. Nachdem die Studenten der Universität in Berkeley sich 1965 mit ihrer Free Speech Movement das Recht auf freie Meinungsäußerung erkämpft hatten, geschah auf der Abschlußkundgebung etwas ebenso Beiläufiges wie Entscheidendes. Der Studentensprecher Mario Savio bat seine Kommilitonen: „Geht bitte nicht weg, wir haben noch einen Krieg zu beenden.“ Sie blieben einfach noch eine Weile, mehr nicht, aber das war schon genug: Die Antikriegsbewegung gegen die USBeteiligung im Vietnamkrieg war geboren.

Was in einem Dokumentarfilm stecken kann, wenn es ihm gelingt, kleine Wahrheiten zu sichern, ist die unwillkürliche Herstellung des großen Zusammenhangs. Von solchen Bildern lernen die Zuschauer, was sie vorher schon gespürt haben, und entdecken etwas, das ihr eigenes Erleben übersteigt. Mark Kitchells für den Oskar nominierter Film ist deshalb zugleich eine Affirmation des inneren Bildes, das sich über die Geschichte der Studentenbewegungen in Europa und den USA verfestigt hat, und etwas verblüffend Ungewohntes. Denn Kitchell gönnt sich den Blick des Unbeteiligten, der nicht zu kühl, aber auch nicht zu schwärmerisch für die Sache ist. Erst so erschließen sich aus dem alten Filmmaterial — nie gesehen und doch seltsam vertraut — und den heutigen Einschätzungen der damals Beteiligten neue Zusammenhänge jenseits eines verklärte Blickes zurück.

Indem wir entsetzten Reportern dabei zuschauen, wie sie hilflose Fragen an Marihuana rauchende Hippies stellen, ist nicht nur zu erkennen, wie belustigend ein derartiges Aufeinandertreffen von Kleinbürgertum und etwas bemühter Provokation aus heutiger Sicht wirkt, sondern auch, daß die revolutionäre Veränderung der Gesellschaft tatsächlich stattgefunden hat. Gerade im Kleinen liegt die Brisanz. Mark Kitchell beschreibt den Mikrokosmos in Berkeley mit einem Lakonismus, der den Film in der Schwebe hält, zwischen friedlichem Widerstand und falsch verstandener Militanz, zwischen Groteske und Hymne, über allem nicht jene Härte der alten Ordnung vergessend, die die Reformbewegung und Antikriegsdemos mit dem Einsatz der Nationalgarde gewaltsam beendete. Verantwortlich für diesen Befehl war übrigens ein alter Bekannter: Ronald Reagan profilierte sich mit seinen Attacken gegen die Studenten bei den verschreckten Bürgern und gewann deshalb die Gouverneurswahlen in Kalifornien. Seine politische Karriere startet, als sich die Studenten auf dem Campus der Uni Berkeley für mehr Bürgerrechte einzusetzen beginnen. Reagans Vormarsch: ein wahrlich bitterer „Verdienst“ der kalifornischen Studentenbewegung. Christoph Boy