Berghaus-Gielen: 1:1 unentschieden

■ Debussys „Pelléas et Mélisande“ an der Berliner Staatsoper

Endlich einmal hat's geklappt: daß ein Stück genau so kurz und bündig auf die Bühne kommt, wie es im Opernführer steht. Da heißt es zum Beispiel, Pelléas und Mélisande zeichne sich aus durch „kindlichen Symbolismus“ sowie durch „ein Flirren und Flimmern in den zartesten Farben“. Und sieh da, wenn der Vorhang sich hebt in der Ostberliner Staatsoper Unter den Linden, sind wir sofort mitten im Babyparadies: ein Bühnenbild wie aus Bauklötzchen hingewürfelt, noch dazu in den niedlichsten Batikfarben der Saison, lichtes Pastell, vorwiegend mint/rosé. Dabei bleibt es auch, freilich flimmernd in wechselnder Beleuchtung, bis am Ende der Vorhang wieder fällt.

Weiter steht geschrieben, Debussys einzige Oper sei ein archaisches „Märchen“, wie die Vorlage Maeterlincks überreich an „Mystik“ und an „Metaphern“ — die älteren Opernführer aber sagen dem Komponisten gar eine gewisse Neigung zu Kitsch und Nippes nach und finden das Stück ein bißchen zu „parfümiert und esoterisch“. Da trifft es sich, daß Ruth Berghaus die Regie führt: Sie ist, das müssen auch ihre ärgsten Widersacher zugeben, unbestritten Weltmeister in Sachen Kunstgewerbe, und sie kennt sich sehr gut aus mit Symbolen. Nur zu gut. Nehmen wir zum Beispiel die erste Szene, die ersten Worte der schönen Mélisande, wie sie da weinend im Wald an der Quelle sitzt: „Ne me touche pas“, sagt sie zu Ritter Golaud, derweil der dem Blümchen Rührmichnichtan, kaum ist es gefunden, patsch patsch an die Wäsche geht. Laut Libretto steht er zwar noch in andächtiger Entfernung zu dem Wunder der Natur, auch ist die Berührung längst nicht, nicht einmal ein erster Blickwechsel, musikalisch vollzogen — gleichviel: Das ist sowieso alles nur symbolisch gemeint, zweitens weiß Mélisande auch nicht genau, was sie will, und drittens wissen wir ja, wie die Frauen so sind.

Man sage nicht, auf solche Kleinigkeiten käm's nicht an. Jedes Wort und jede Geste, jedes Requisit steht in dieser Oper ein für jeweils andere Gesten und Worte — und man muß doch wohl dankbar sein, wenn die Regie so schnurgerade Schneisen schlägt in das Dickicht der verirrten Seelen und derart eindeutige Wegweiser aufstellt fürs rechte Verständnis, daß man sich höchstens manchmal fragt, was Berghaus sich gedacht hat. Was Debussy oder was Maeterlinck sich gedacht haben, steht stets außer Frage. Als die Liebenden sich treffen am Wunderbrunnen, von dem es heißt, er habe früher einmal Blinde geheilt, als sie erst dort gewahr werden, daß sie sich lieben, was tragen sie da und nehmen es pünktlich ab? Na? Schwarze Augenbinden. Womit spielt das Kind, wenn die Rede ist von dem Schiff, das kommen wird, womit hantiert Pelléas punkt zwölf Uhr mittags, wenn der ferne Bruder einen Reitunfall hat? Ein Schiffchen, ein Pferdchen? Genau. Der schönste Regieeinfall ist freilich der mit den Haaren. Der sexuelle Hintersinn von langen, blonden Mädchenzöpfen, die von Türmen heruntergelassen werden, ist ohnehin sattsam bekannt — hier trägt die Heldin deshalb eine kurze, struppige Perücke auf dem nackten Schädel, ihr Herzliebster aber eine Art großen rosa Vopohelm, welche Deckel sie ab und an lüpfen, um sich gegenseitig tief in die Gedanken zu gucken. Genau das, was mein Opernführer „psychoanalytischen Nuancenreichtum“ nennt.

Ein bißchen komisch wirkt das freilich auch, wie die Figuren da so ernst und eckig herumkaspern — im Märchen gibt es eben immer was zu lernen und zu lachen. Außerdem: Man erinnere sich an den Skandal bei der Uraufführung des Pelléas vor neunundachtzig Jahren in der Opéra Comique, als die Leute sich köstlich amüsierten und den ganzen Symbolkram für nichts als einen guten Witz hielten. Immerhin gehörte die Story vom gehörnten Ehemann, jedenfalls bis hin zu Wagners Tristan, seit je eher ins Buffofach. Ganz wie im Tristan wird sie auch im Pelléas erst durch den tragischen Schluß und die gespreizte Sprache veredelt — und dank der rasend schönen Musik dann zu einer heiligen Handlung. In gewisser Weise hat also Berghaus mit ihrer Lesart diese Oper wieder säkularisiert. Was gut aufgeht. Nur der Schluß paßt nicht mehr so recht ins Bild, und Debussy muß dabei überhaupt unten im Graben bleiben.

Dort aber am Pult wirkt Michael Gielen. Sein Stab küßt jeden Ton einzeln mit größter Gründlichkeit: daß man hört, wie er gemacht ist, wo er herkommt und hingeht, was seine Aufgabe und sein Sinn. Es sind Todesküsse. Hier die Harfe, da das Horn, jeder für sich, und nun kommen noch gedämpfte Streicher dazu: Dreierlei verschieden macht zusammen noch keinen Klang, aber es ist wenigstens etwas, was dingfest zu machen ist. Niemand soll schwelgen, davontreiben und absaufen dürfen in unsicheren Atmosphären — hier zählt nur, was auch gezählt werden kann. So geht Gielen den Delirien der Debussyschen Klangwelt sachlich und besonnen aus dem Wege. Das ist außergewöhnlich und höchst interessant zu hören. Die Staatskapelle und das junge Sängerensemble ziehen mit auf hohem Niveau. Man darf also sagen: Der neue Pelléas in der Lindenoper ist gewiß eine ganz besondere Glanznummer der hiesigen Opernsaison.

Das Besondere daran: Berghaus setzt oben auf der Bühne gnadenlos alle Klischees des Debussyismus in Szene, Gielen gelingt es unten, sie sämtlich wieder wegzudirigieren. Eins zu eins unentschieden — nur mit dem Werk selbst haben beide Stars herzlich wenig zu tun. So hat das Publikum wieder einmal was Reizendes erlebt, worüber sich gut reden läßt. Die Liebhaber Debussys dagegen gingen tief betrübt nach Hause. Elisabeth Eleonore Bauer