Machtpoker um die Führung der Schiiten

Das Oberhaupt der irakischen Schiiten, Saddams „Hofpfaffe“ Abu Qasem Khoi, verurteilt den Aufstand gegen Hussein/ Khoi avancierte durch Saddams Unterstützung zum Gegenspieler Chomeinis  ■ Von Ahmed Taheri

Während die Peschmerga, die „todgeweihten“ kurdischen Partisanen, im Norden des Iraks einen Erfolg nach dem anderen vermelden, bleibt die Lage bei den Schiiten unklar. Die Konfusion wurde verstärkt, als sich der irakische Diktator Saddam Hussein am Donnerstag mit dem religiösen Oberhaupt der irakischen Schiiten, dem Großajatollah Abu Qasem Khoi im irakischen Fernsehen zeigte. Khoi habe die aufständischen Glaubensgenossen verurteilt, hieß es in Bagdad. Der Großajatollah werde von Saddam mit Gewalt festgehalten, erklärte hingegen die schiitische Opposition.

Wie dem auch sei, der 93jährige Gottesmann persischer Herkunft war noch nie ein Mann des politischen Aufbegehrens. Khoi gehört zu jener quitistischen Richtung der Schia, die meint, die politische Macht gebühre nur dem „Mahdi“, dem „verborgenen Imam“. Eben dieser politischen Abstinenz verdankt Khoi seine hohe Stellung als „Mardja“, als „religiöses Vorbild“ der Schiiten.

1970 starb der Großajatollah Mohsen Al Hakim, der unangefochtene „Mardja“ der schiitischen Gemeinschaft zwischen Libanon und Indien. Um die Frage der Nachfolge spaltete sich bald die schiitische Welt. Gehandelt wurden zwei Namen: Khoi und Chomeini. Nur eine Minderheit der schiitischen Geistlichkeit, vor allem in den iranischen Städten, ergriff Partei für Chomeini. Die Mehrheit folgte indes den theologischen Kreisen in der irakischen Stadt Nadjaf, der Hochburg der Gelehrsamkeit, und feierte Abu Qasem Khoi als „Mardja“. Entscheidend war dabei das Wohlwollen der herrschenden Baath-Partei für den greisen Gelehrten aus der westiranischen Stadt Khoy.

Selbst als Ayatollah Chomeini mit dem Sieg der islamischen Revolution im Iran 1979 zum politischen Oberhaupt der Schiiten wurde, blieb Khoi für die Mehrheit der Schiiten, namentlich im Irak, die höchste religöse Autorität. In Nadjaf fungierte Khoi von nun an als Gegenpol zu dem iranischen Revolutionsführer, der ihn stets als „Akhund-e Darbari“, als „Hofpfaffen“, bezeichnete. In dem achtjährigen Krieg zwischen dem Irak und dem Iran ergriff der „Hofpfaffe“ stets Partei für Bagdad. Die Mullah-Herrschaft in Teheran bezeichnete der konservative Theologe Khoi als „Bad'a“, als blasphemische Innovation, weil sie das Werk des „,verborgenen Imam‘ vorwegnehme“.

Die politische Abstinenz Khois teilten indessen nicht alle Schiiten- Führer des Iraks. Die beiden mächtigen Mullah-Familien Sadr und Al Hakim machten aus ihrer Abneigung gegen den arabischen Nationalismus der Baath-Partei kein Hehl. 1980 beschuldigte Saddam Hussein sie politischer Attentate, zwei Dutzend Angehörige aus beiden Clans wurden hingerichtet. Einem der Söhne Hakims, Said Mohammad Baqir, gelang die Flucht nach Teheran.

Dort gründete er den „Hohen Rat der Islamischen Revolution des Iraks“ (SAIRI), den Dachverband der schiitischen Opposition. Die Organisation umfaßt neben Baqir Al Hakims eigener Hausmacht, der „Liga der irakischen Geistlichkeit“, die „Dawa“ („Die Mission“), die „Partei der islamischen Aktion“ und einige weitere kleinere Gruppen.

Hakim und sein „Hoher Rat“ führten ein politisches Schattendasein im persischen Exil. Ihre Aufgabe bestand hauptsächlich darin, die irakischen Kriegsgefangenen auf die richtige Linie zu bringen und für ihren eigenen möglichen Partisanenkampf zu trainieren. Die Appelle des irakischen Mullahs an seine Glaubensgenossen im Zweistromland indes, sich im Krieg auf die Seite des Irans zu schlagen, blieben erfolglos. Das arabische Nationalgefühl der irakischen Schiiten war anscheinend stärker als die konfessionelle Loyalität zum persischen Klerus.

Denn im Unterschied zu den religiösen Führern, die überwiegend iranischer Herkunft sind, sind die meisten schiitischen Iraker Araber. Der irakische Süden ist das Stammland des Schiitismus. Es waren die arabischen Stämme von Kufa und Basra, die in den frühislamischen Machtkämpfen für Ali, den ersten schiitischen Imam, und seinen Sohn Hussein, den dritten Imam, Partei ergriffen. Doch während in Persien die safawidische Dynastie im sechszehnten Jahrhundert die Schia gewaltsam zur Staatsreligion erhob, blieb der Irak stets unter sunnitischer Herrschaft. Selbst nach der Auflösung des sunnitischen Osmanischen Reiches, zu dem das Zweistromland 400 Jahre lang gehörte, blieb in dem neu entstandenen irakischen Nationalstaat die politische Macht weiterhin in den Händen der Sunniten.

Doch die Mehrheit der schiitischen Stämme im Süden blieben dem Geist des schiitischen Pietismus verpflichtet. Die religiöse Freiheit war ihnen weit wichtiger als das Streben nach politischer Macht. So gesehen ist der Aufstand der schiitischen Bevölkerung im irakischen Süden nicht Zeichen eines dogmatischen Islamismus, wie die schiitische Revolution Ayatollah Chomeinis, sondern der spontane Ausdruck der allgemeinen Unzufriedenheit mit Saddam Hussein. Aber gerade deshalb kann dem Aufstand der Schiiten bald der Atem ausgehen, zumal ihre religiöse Autorität, Großayatollah Khoi — gezwungen oder aus freien Stücken — ihnen den religiösen Segen versagt.