Lebenslang für Geiselgangster

Urteil im Gladbecker Geiselgangsterprozeß/ Dieter Degowski: „vorsätzlicher Mord“/ Hans-Jürgen Rösner: „Tod leichtfertig herbeigeführt“/ Vertreter der Opfer klagen Polizeiversagen an  ■ Aus Essen Walter Jakobs

Die beiden Gladbecker Geiselgangster Hans-Jürgen Rösner (34) und Dieter Degowski (33) sind am Freitag vom Essener Landgericht zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt worden. Marion Löblich (36) kam als Mittäterin mit 9 Jahren davon. Für Rösner, den Kopf des Trios, ordnete der Gerichtsvorsitzende Rudolf Esders zusätzlich Sicherungsverwahrung an.

Während die Angeklagten die Urteilsverkündung ohne jede äußere Regung aufnahmen, verließ die Ehefrau von Degowski sichtlich geschockt den Gerichtssaal. Sie hatte den Angeklagten erst während des eineinhalb Jahre andauernden Prozesses kennengelernt und auf ein milderes Urteil gehofft.

Degowskis Verteidiger Prosotowitz versuchte noch unmittelbar vor der Urteilsverkündung, das Gericht zur Beiziehung eines zusätzlichen Gutachtens zu bewegen, um die von der Staatsanwaltschaft geforderte Verurteilung wegen Mordes abzuwenden. Das Gericht lehnte ab. Den tödlichen Schuß auf den 15jährigen italienischen Jungen Emmanuele de Giorgi, den Degowski aus unmittelbarer Nähe im gekaperten Bus an der Raststätte Grundbergsee abgegeben hatte, wertete das Gericht als vorsätzlichen Mord. Die Kugel, die die 18jährige Silke Bischoff bei der finalen Rambo-Aktion auf der Autobahn A3 tötete, stammt nach Auffassung des Gerichts zwar aus Rösners Waffe, vorsätzlicher Mord sei ihm aber nicht nachzuweisen. Es sei nicht ausgeschlossen, daß der Schuß sich in dem Moment unbeabsichtigt gelöst habe, als Rösner selbst von einer Polizeikugel getroffen worden sei. Den Tod habe Rösner aber durch die Geiselnahme „leichtfertig“ herbeigeführt und zu verantworten.

Mit dem Urteil ging am Freitag der Prozeß um das wohl spektakulärste Verbrechen in der Geschichte der Bundesrepublik zu Ende. Während der 109 Verhandlungstage traten 200 Zeugen und 20 Sachverständige auf. Im Gerichtssaal entpuppten sich die bei der Tat großmäuligen und brutal agierenden Geiselnehmer allesamt als sozial schwer geschädigte Persönlichkeiten. Alle drei stammen aus total zerrütteten familiären Verhältnissen und gingen auf Sonderschulen. Rösner und Degowski erlebten ihre trinksüchtigen Väter als brutale Schläger, Marion Löblich litt an ihrer als unberechenbar und hysterisch empfundenen Mutter. Rösner habe „sozial nie Fuß gefaßt“ und schnell auf die Gewalt zur Durchsetzung seiner Ziele gesetzt. „Angst“ vor dem Leben und ein permanentes „Unterlegenheitsgefühl“ bestimmten nach den Worten von Richter Esders die Persönlichkeit von Degowski. Als eine „zugleich gefährdete wie gefährliche“ Person beschrieb Esders den Mann, der sich — wie auch Rösner — während des Geiseldramas mit dem Aufputschmittel Vesparax und mit Alkohol Mut machte. Daß Marion Löblich sich an dem Verbrechen beteiligte, wertete das Gericht als Konsequenz aus ihrem Verhältnis zu dem Haupttäter Hans-Jürgen Rösner. Dieser habe „sie von sich abhängig gemacht“.

Daß diese drei von den gesellschaftlichen Verhältnissen gestraften Menschen selbst unsägliches Leid über die Familien Bischoff und de Giorgi bringen konnten, hat nach Auffassung der Verteidiger und der Nebenkläger die Polizei wesentlich mitzuverantworten. Die Verzweiflung über den Verlust seines Sohnes steht dem an der Urteilsverkündung beiwohnenden Vater des ermordeten 15jährigen Emmanuele auch heute noch im Gesicht geschrieben. Rechtsanwalt Rosenkranz hatte als Nebenklagevertreter für die Familie de Giorgi in seinem Plädoyer davon gesprochen, daß „von der Polizei eindeutig die Bedingungen gesetzt worden sind“, die zum Tod von Emmanuele de Giorgi und Silke Bischoff geführt hätten. Dazu zählte der Anwalt „die völlig unüberlegte Festnahme von Frau Löblich“, die Degowski mit dem Mord an de Giorgi freipressen wollte. Auch der Nebenkläger Gerold Bischoff hatte die Stürmung des Fluchtautos als „menschenverachtend und massiv rechtswidrig“ gewertet. Politisch verantwortlich machte der Anwalt für den „kriminellen Zugriff“ den nordrhein-westfälischen Innenminister Herbert Schnoor. Ob das zumindest dilletantische Verhalten der Polizei auch rechtswidrig war, wird das Bundesverfassungsgericht letztendlich klären müssen. Verteidiger und Nebenkläger haben eine entsprechende Beschwerde beim höchsten deutschen Gericht angekündigt. Ein Klageerzwingungsverfahren von Bischoff gegen drei hohe Polizeibeamte aus Nordrhein-Westfalen und Schnoor hat das Oberlandesgericht in Hamm schon im letzten Jahr zurückgewiesen. In Karlsruhe, so hofft Rolf Bossi, der Degowski vertritt, werde genauer und „ unvoreingenommener“ geprüft als von der sozialdemokratisch geprägten NRW-Justiz.

Wie das Essener Gericht die unglaublichen polizeilichen Fehler während des Geiseldramas wertet, stand bei Redaktionsschluß noch nicht fest. Die Urteilsbegründung dauerte noch an.