Es rast der Sturm

Lortzings Zauber-Oper „Undine“ in Wiesbaden  ■ Von Jürgen Lodemann

Zar und Zimmermann und Wildschütz sind, wie schon Lortzing wußte, „nicht umzubringen“. Aber Waffenschmied und Undine? Die, da ist man sich einig, sind verstaubt, vorgestrig. Daß das Gegenteil wahr ist, zeigen zwei neue Inszenierungen. Über Kowitschnys Waffenschmied in Kassel, in der Stadt der Waffenproduktion, haben wir hier berichtet. Nun geschah am Hessischen Staatstheater Wiesbaden ein Undinen-Wunder, durch Dietrich Hilsdorf. Plötzlich war eine offenbar aussichtslos veraltete Oper nicht nur gerettet, sondern so aggressiv und modern wie Oper sein kann. Wie das?

Hilsdorf hat die Dialoge weggelassen, zum Glück. Ließ zum anderen hören, mit welchem unverschämtem Schlendrian Dirigenten und Regisseure mit dem umgingen, was sie zu verehren vorgaben. Zum Beispiel hört man in Wiesbaden zum erstenmal das Duett zwischen Undine und Wasserfürst Kühleborn, eine entscheidende Szene, die unheimlich, die irreal komponiert ist, mit tiefsten Streichern, sie ist Motor der Geschichte. Sie zu streichen, hat alle weiteren Schlampereien als notwendige Konsequenz. Undine wie Kühleborn sind, was wir 'Natur‘ nennen, auch jene Natur in uns, die uns denn doch ab und zu überkommt — das ist Leitmotiv dieses Duetts wie dieser romantischen Oper, in Text und Musik zwar von einem Komödianten geschrieben, vor Wagner, aber erst jetzt, endlich, beim Wort und bei den Noten genommen, mit ebenso mutiger wie kluger Genauigkeit. Das Zentralthema, die Menschen-Natur, die Triebhaftigkeit, vor allem die der Männer, wird schon in der Ouvertüre klar: Herren begeben sich unternehmungsfroh in den Zauberwald, 'man‘ träumt von blauen Blumen, die auch alsbald, als blaugewandete Undinen, zwischen den phallischen Bäumen erscheinen. „Undine geht“ (ich zitiere mit Absicht die von Hilsdorf zitierte Ingeborg Bachmann), Undine geht auf den Ritter zu, sie verfallen heftigem Liebesrausch. Lortzing, immer wieder in Biedermeier-Ecken abgestellt, erweist sich als einer, der in seiner Musik wie in seinen Texten das, was Hilsdorf endlich sichtbar macht, vorgab: Männlichkeit, Sieg, Brutalität beim Durchsetzen der eigenen sogenannten „Natur“.

In Hilsdorfs Zauberwald gaukeln wildeste Gestalten, einige der Herren sind alsbald in Schweine verwandelt (in der Pause höre ich einen dicken Besucher den anderen empört fragen, was die Schweine auf der Bühne zu suchen hätten), sind in das verwandelt, in das in dem ältesten unserer wahren Märchen die Männer von Circe verzaubert werden. Sie gieren nun auch im teutschen Wald, einem hängt der Kopf zwischen den Beinen. Kurz darauf, bei der Hochzeit, erscheinen die Herren unter weißen Brautschleiern, in gespenstischen Hüllen, wer diesen Schleier lüftet, der sieht den Tod.

Das ist alles von der Partitur wie vom Libretto gestützt, Hilsdorfs Fassung ändert nur hier und da sinnvoll die Reihenfolge. Am verblüffendsten, wie er das Quintett inszeniert. Was bieder fromm schien und scheinbar unerträglich, zeigt hier seine tatschächliche Unerträglichkeit: Das Naturkind Undine wird in die Dressur genommen, in die elterliche Zange und vor allem unter die priesterliche Drohung mit dem Kreuz — das wehrlose Mädchen liegt plötzlich, wie beiläufig, rücklings auf einem Tisch, wird förmlich exorziert, von der Heidin zur Christin vergewaltigt —, bravo, allein für diesen Moment.

Als einer der (hervorragenden) Komiker dem anderen mitteilt, der Ritter habe sich aus dem Zauberwald ein Weibchen mitgebracht, und der andere genußvoll wiederholt: „Ein Weibchen!“ und sich dabei lüstern, im Suff, zwischen die Beine faßt, setzte es aus der Abonnenten-Ecke Buhrufe — von nun an wurden Buhs von Bravo-Schreien übertönt, die Bravos siegten. Wer hätte je gedacht, daß man um Lortzings Undine noch einmal so in Bewegung geraten würde.

Hilsdorf steigerte noch den Durchblick, brachte in der riesigen zweiten Hälfte das Wunder- und Verwirrspiel auf eine atemberaubende Konstellation. Der Ritter zwischen zwei Frauen, die eine, die seelenvolle, die stolze, feuert ihn an, reizt ihn zu triumphierender Männlichkeit, zu Kampfbereitschaft — gegen Undine und ihr Reich, gegen die Natur. Diese große Schlußszene gewann in Wiesbaden beklemmende Aktualität — Kreuzzeichen und Schwert nebeneinander im Boden, „wie nah sich, wie verschwistert“ (O-Ton Lortzing), das Auftrumpfen des soldatischen Ritters, seine forcierte Freude, das Überschreien der verdrängten Angst, die Resignation der Säufer, das Ducken und Heucheln der Hofschranzen, präzis erarbeitete Chorszenen, düstere Dynamik — am Ende, unausweichlich, die Katastrophe der „Seelenvollen“, ein Ende mit allen Schocks. In den von Johannes Leiacker überzeugend konzipierten Raum bricht das Verhängnis, durch die Welt ein Riß, Rache der geschändeten Natur, letzte Schreie der fliehenden, untergehenden Menschen. „Es rast der Sturm — die Mauern brechen ein — Allmächtiger, Du mögest gnädig sein!“ Schluß. O-Ton Lortzing.

Der Ritter, völlig verwirrt, schon vorher hatte er die eine geküßt und dabei die andere besungen, nun hält er von Undine nur noch das schöne Kleid im Arm, stirbt in absoluter Konfusion. Aus dem Triumph, aus der Hochzeits-Höhe stürzt sie ab, die schöne Staatstheater-Welt, aus glanzvollem Gold-Licht in absolute Schwärze und Stille — bravo, Hilsdorf, Gratulation auch dem Orchester und Guido Johannes Rumstadt, der sich um jede Phrase dieser bis heute fast immer verschlampten Partitur kümmerte, mit Liebe, mit Können. Respekt dem Chor wie den Solisten — endlich mal ein glaubwürdiger Elementarfürst (Kristinn Sigmundson) — welch eine Zumutung die neue CD, wo Kühleborn das Stimmchen eines Pubertierenden hat —, endlich auch die Gleichwertigkeit der beiden Frauen, Monika Krause als Undine, José Kalthof als Bertalda. Tapfer hatte Arley Reece als Ritter-Tenor mit seiner Angst ebenso zu kämpfen wie mit jener dreimaligen C-Höhe im Finale, seine Klugheit half ihm, wo an diesem Abend die Stimme den Gipfel nicht ganz schaffen wollte, irgendwie gehörte sogar das zur Botschaft des Stücks. Bravourös auch sein Knappe Veit, faszinierend als Entertainer und Alkoholiker (Scot Weir).

Wer Waffenschmied kennenlernen will und nun Undine, reise ins Hessische, er wird Abenteuerbilder und Wunderklänge mitbringen, aus Wiesbaden eine Undine im Geist Breughels, Boschs oder E.T.A. Hoffmanns, souverän gesehen durch die Augengläser nicht nur Freuds, sondern auch dessen, was unsere Kreuz-Kriegs-Gegenwart lehrt, Gratulation Dietrich Hilsdorf. Das ist so, als ob der zu Lebzeiten immer nur ausgenützte, allein gelassene und rumgeschubste Lortzing 150 Jahre nach seinem Verrecken einen Ratgeber gefunden hätte, einen klugen Dramaturgen, Freund und Regisseur, der in seinem Werk sichtbar und hörbar macht, was immer darin gewesen ist und unter 150jährigem Schlendrian und Anpasserei biedermeierlich verschlafen wurde. Ist zu hoffen, sie, Konwitschny oder Hilsdorf, bekämen nun auch die Chance, Lorztings dezidiert politische Oper, seine 1848 aufs Jahr 1848 geschriebene Freiheits-Oper zu inszenieren, das bis heute so sorgfältig verborgene Lehr- und Aufstandsstück Regina.