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Madrids Mieter leben auf der Straße

Die Behörden der spanischen Hauptstadt gehen hart gegen obdachlose junge Familien vor, die leerstehende Häuser besetzt haben/ Politik der sozialistischen Regierung macht Wohnen zum Luxus/ 200.000 Wohnungen in Madrid stehen leer  ■ Aus Madrid Antje Bauer

Noch bis Donnerstag abend flatterten Dutzende Kinderkleidchen auf einer Wäscheleine vor dem Haus. Ein großes Plakat forderte: „Wohnraum! Weg mit dem Boyer-Dekret!“ Doch dann kam die Polizei und prügelte die 17 Familien, die das Haus in der Madrider Straße Lope de Vega Anfang März besetzt hatten, wieder hinaus. Seither steht es leer, wie seit zwanzig Jahren.

Es war nicht gerade ein Traum von einem leerstehenden Haus: Vor zwanzig Jahren hatte der Besitzer es wegen Schwierigkeiten mit den Behörden im Rohbau stehengelassen. Treppen, so schmal wie Hühnerleitern, verbanden die Stockwerke, Toiletten gab es nicht, und vor die Fensterhöhlen hatten die Besetzer Plastikplanen gespannt. Die vierköpfige Familie von Pilar Velez, der Sprecherin der Gruppe, hauste in einem einzigen, kaum verputzten Raum, schlief auf Matrazen direkt auf dem Betonfußboden und heizte mit einem winzigen Elektroöfchen.

„Wir haben keine andere Wahl, als zu besetzen“, klagt Pilar. „Früher hat mein Mann bei seinen Eltern gewohnt und ich mit meiner Tochter bei den meinen. Als der Sohn kam, ging das nicht mehr. Eine Wohnung können wir uns aber nicht leisten.“ Pilar ist arbeitslos, ihr Mann hat gerade seinen Job verloren. Nun leben sie von der Sozialhilfe, zusammen gerade 40.000 Peseten im Monat, knapp 700 DM. Den anderen Besetzerfamilien, alle aus den armen südlichen Vorstadtvierteln von Madrid, geht es ähnlich: Mit dem Monatslohn eines Arbeiters von gerade 1.000DM können die Madrider Mieten nicht bezahlt werden.

Schuld an dem Auseinanderklaffen von Mieten und Einkünften ist das „Boyer-Dekret“, genannt nach dem sozialistischen Wirtschaftsminister, der es 1985 verabschiedete. Die Mieten waren damals staatlich festgelegt — ein Relikt aus Francos Zeiten. Das neue Dekret hingegen erlaubte die freie Aushandlung der Miethöhe bei allen neuen Mietverträgen. Seither haben sich die Mieten mehr als verzehnfacht — vor allem in den Großstädten. Während eine Wohnung mit einem alten Mietvertrag im Zentrum von Madrid 10DM Miete pro Monat kosten kann, mag für die Nachbarwohnung aufgrund eines neuen Mietvertrags inzwischen das Hundertfache berappt werden. Es ist inzwischen praktisch unmöglich, eine auch noch so kleine Wohnung zu finden, die weniger als 1.000 DM Miete kostet.

Die Mieter sind der Willkür des Vermieters nicht nur beim Anmieten der Wohnung ausgesetzt. Mehr als zwei Drittel aller Mietverträge werden seit dem „Boyer-Dekret“ zeitlich begrenzt, in der Regel auf ein Jahr. Wenn der Vermieter gnädig ist, wird der Vertrag danach verlängert, und die Miete steigt automatisch um den Inflationssatz (sieben Prozent). Ist er ungnädig, setzt er die Mieter ohne Federlesen auf die Straße und sucht sich neue, zahlungskräftigere. Mieterschutz gibt es dagegen nicht.

Statt des erhofften Anreizes zum Wohnungsbau und zum Vermieten leerstehender Wohnungen hat das „Boyer-Dekret“ zu einer rapiden Verschärfung der Wohnungsnot geführt. Nach einer Untersuchung des „Jugendrates“, einer Vereinigung von Jugendgruppen, hat nur jede/r zehnte Spanier/in unter 30 Jahren eine eigene Wohnung. Immer mehr Familien werden obdachlos, weil sie die Mieten nicht mehr bezahlen können. Gleichzeitig stehen laut der Madrider Mietervereinigung allein in Madrid 200.000 Wohnungen leer.

Immer wieder sind im Laufe der vergangenen Jahre deshalb leerstehende Häuser und Wohnungen besetzt worden — von Freaks oder von jungen Familien. Doch soviel Zeit sich die Stadtverwaltung auch ließ, um Maßnahmen gegen die Eigentümer der leerstehenden Häuser zu ergreifen, so ungeduldig zeigte sie sich nach Besetzungen. Das Haus in der Lope de Vega stand zwanzig Jahre leer und war erst zwei Wochen besetzt, als es geräumt wurde. Zwar verließen die Besetzer das Haus widerstandslos — schon um ihre Kinder nicht zu gefährden —, doch besetzten sie sofort ein anderes.

Pilar hat Grippe von der Kälte in dem unbeheizten Gebäude, ihr zweijähriger Sohn ist ebenso nervös wie ihr arbeitsloser Mann. Im Januar sind sie aus einer anderen besetzten Wohnung geräumt worden, dann haben sie ein paar Tage in einem Zelt gehaust, danach wurden sie von der Mietervereinigung untergebracht, und nun wurden sie erneut geräumt. Die Stadtverwaltung hat sich geweigert, den Familien Wohnungen zur Verfügung zu stellen.

Wähend Miguel Boyer gerade in einem Nobelvorort der Stadt eine Riesenvilla mit Dutzenden von Bädern für sich bauen läßt, kämpft die Mietervereinigung um die Rücknahme seines Dekrets. Selbst das Ministerium für Öffentliche Bauten fordert eine Neufassung des Mietgesetzes. Doch erst mal wird weitergeräumt.

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