Das hatten wir doch viele Jahre lang

■ Betr.: "Nachdenken über Christa Wolf", taz vom 14.3.91

betr.: „Nachdenken über Christa Wolf“, taz vom 14.3.91

Als vor einigen Monaten — für manche mögen es schon Jahre sein — großbürgerliche Literaturkritiker Christa Wolfs Was bleibt zum Anlaß nahmen, die Autorin als Privilegierte des SED-Systems und Staatsdichterin zu diffamieren — ganz eindeutig ohne auf das zu besprechende Buch und seinen literarischen Wert einzugehen —, konnte ich das gut verstehen: Aus dem Stall konnte eigentlich nichts anderes kommen. Kritische Linke gehören diffamiert, und sei es als unkritische „Staatsdichter“.

Wenn nun Ortrud Rubelt in einer Vorabrezension der DFF-Sendung „Zeitschleifen“ vom 14.3. nichts anderes tut, bringe ich kaum noch Verständnis dafür auf. Mein Problem ist dabei nur zum geringeren Teil die Wertung der Schriftstellerin und der Sendung über sie. Die ist eindeutig: Christa Wolf das Hätschelkind der SED, keine Trauer zeigend über ihre Rolle (die, weiß Ortrud Rubelt, des Trauerns wert war), eine Frau, deren Verhalten dringend der Begründung bedürfte, ein Mensch, der, gäbe es für Schriftsteller sowas wie Evalutation, vor Ortrud Rubelt, so wie die Dinge jetzt stehen, wenig Chancen hätte. Und die Filmemacher: Dokumentarfilmer der östlichen DEFA, die jüngste Vergangenheit verdrängend, nicht nach den Ursachen des Holzweges suchend. Klar: ehemalige Staatsfilmer!

Ich will nicht bewerten, ob und inwieweit Ortrud Rubelt den Film zutreffend beschreibt. Ich kann es auch gar nicht, denn während ich diesen Brief tippe, ist es 17 Uhr, und der Film wird erst in fünf Stunden gesendet. Und genau dies ist das eigentlich verheerende an dem Artikel: Bevor wir uns am Bildschirm eine Meinung bilden können, wird uns die Meinung bereits mitgeteilt. Das hatten wir doch gerade so viele Jahre lang... War es nicht eben das, wogegen die „Staatsdichterin“ anzuschreiben versuchte? Der gleiche Text von Ortrud Rubelt am Tag nach der Sendung — na gut, weil nicht irgendeine Meinung gemacht wird, sondern genau die, die man, hält man sich an die einschlägigen Feuilletons, gegenwärtig zu haben hat und die auch eine Rezensentin ohne Anstrengung schon haben kann, bevor sie den Film sieht.

Ich denke, die Botschaft der Rezension sollte man nochmals deutlich wiederholen: Die „besten“ ostdeutschen SchriftstellerInnen haben so erheblichen Dreck am Stecken, daß er bis heute noch nicht an- oder gar abgekratzt ist; und die Öffentlichkeit, die Medien des Ostens sind nicht entfernt in der Lage, ihre unselige Geschichte aufzuarbeiten. Sie und wir übrigen 15.999.998 Versager können und können und können es nicht. (Darum auch dieser Brief!) Dr.Hans-Peter Gensichen,

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