Hauptsache zurück

„Section 28“ und die britische Gay-Kultur  ■ Von Thomas Langhoff

Ein Blick zurück: Als Andy Warhol auf der blumigen Leinwand der Sechziger öffentlich seinen homosexuellen Phantasien frönte, begann für die sich bis dahin versteckt und sehr bedeckt haltende Gay-Szene das langersehnte „Coming Out“. Während die meisten Revolutionsträume dann unter dem Depressionsschutt der Siebziger verschwanden, schwappte das „Coming Out“ über den Atlantik in die Städte Europas. Es schwappte anderthalb Jahrzehnte — bis der Aidsvirus die Lust in den Sarg schickte.

In Großbritannien gesellte sich 1988 die Tory-Regierung zu den Totengräbern der öffentlichen Lustdebatte. Mit der sogenannten „Section 28“ verbot sie kommunalen Geldgebern, Homosexualität zu „fördern“. Drei Jahre später steht mit dem Paragraphen 28 ein neues Anti-Gay-Gesetz zur Diskussion. Während dieser neue Paragraph des Strafgesetzbuches lautstarke Proteste provoziert, sind die Folgen seines Vorgängers aus der Finanzgesetzgebung schon längst vergessen.

Das Protest-Procedere gegen die alte „Section 28“ lief wie üblich: Einige Wochen lautes Aufbegehren, dann Todesstille — keine Skandale, kein Geschrei. Die dreijährige Ruhe aber bedeutet nicht, daß der Paragraph 28 nicht funktioniert — er funktioniert geräuschlos.

Dem Londoner „Gay Sweatshop“, dem einzigen Gay-Theater des Königreiches, strichen lokale Ratsherren vor zwei Jahren die Förderung für einen Auftritt in Newcastle. Der Paragraph 28 tauchte in der Begründung jedoch nicht auf. „Niemand will als erster das Gesetz ins Spiel bringen, weil das eine Menge Lärm verursachen würde“, erläutert der artistische Direktor des Sweatshop, David Benedict, die Mechanik der lautlosen Zensur — „aber es war allen Leuten vom Theater klar, daß der Grund für die Weigerung der Paragraph 28 war.“

Als der Kulturhüter der Grafschaft Kent die „Glyndebourne Opera“ mitsamt Benjamin Brittens „Tod in Venedig“ aus den Schulen verbannte, beriefen auch sie sich nicht auf den Gesetzestext, sondern griffen zum Stempel „nicht geeignet“. Die vage Formulierung des Gesetzes stand schon vor drei Jahren im Kreuzfeuer der Kritik. „Man kann überhaupt nicht mit dieser Verordnung arbeiten, weil niemand die Grundregeln kennt“, kritisiert David Benedict den für vielfältige Interpretationen offenen Passus. Einerseits verbietet der Anti-Gay-Erlaß den Gemeinden, „Homosexualität absichtlich zu fördern“ oder „in den öffentlichen Schulen Homosexualität als akzeptable Familienbeziehung darzustellen“. Andererseits aber legt eine ergänzende Passage fest, daß diese beiden Verbote nicht dazu führen dürfen, Projekte „mit dem Ziel der Gesundheitsaufklärung“ zu unterbinden.

Der Streit um die Multimedia- Show „Ecstatic Antibodies“ macht das Dilemma deutlich. Mit Videoinstallationen, Fotografien und Skulpturen wollten die „Antibody“- Künstler das in die Privatsphäre verdrängte Schicksal der Aids-Opfer in die Öffentlichkeit tragen. Dies gefiel den Stadträten der Gemeinde Salford überhaupt nicht — sie strichen im letzten Jahr die schon gebuchte Ausstellung aus ihrem Programm. Die offizielle Begründung: „Dies ist eine Familiengalerie und das ist der falsche Ort für eine solche Ausstellung.“ Ein Komiteemitglied bekannte später, daß der Paragraph 28 in der Diskussion eine Rolle gespielt hätte — und daß man gleichzeitig dazu aufgefordert worden sei, „mit niemandem darüber zu sprechen“.

Zum einen erwähnt niemand das Gesetz, zum anderen beschränken sich die Restriktionen auf weniger bekannte Künstler. „Nachdem der Text letztendlich in den Gesetzesbüchern auftauchte“, erinnert sich David Benedict, „sagen viele Leute: ,Schaut her, nichts hat sich geändert. All die Werke, deren Existenz eurer Meinung nach auf dem Spiel stand, sind immer noch da. Man macht immer noch ,Billy Budd‘, und Oscar Wilde gibt es in jeder Gemeindebücherei. Ihr habt alle ein Affentheater gemacht.‘“

Tote Provokateure wie Oscar Wilde werden mitsamt ihrer Provokation einbalsamiert, weniger bekannte Künstler wie die Photographen und Maler der „Antibody“- Gruppe werden ignoriert. Das wohlgeschmierte Triebwerk der „Section 28“ läßt viele Bücher, Photos und Bilder lautlos verschwinden. Ein Nebenprodukt dieser direkten Diskriminierung: Das Risiko, monatelang an einem Theaterstück zu arbeiten, ohne es je aufführen zu können, ist gestiegen.

„Die Geschichte ist voll homosexueller Autoren, die aus Angst vor dem ,Coming Out‘ eindeutig homosexuelle Charaktere schufen, diese aber dann immer irgendwie verkleiden mußten“, befürchtet David Benedict einen Rückfall in vergangene Zeiten. „Ich möchte nicht, daß so etwas noch einmal passiert, daß man wieder alles in bestimmte Codes packt, nur weil man glaubt, daß mit explizit homosexuellen Charakteren kein breites Publikum erreicht werden kann.“

Für das „Coming Out“ der Neunziger geben die britischen Kultur- und Moralkonservatoren ihr altbewährtes Steuerkommando: Egal wohin, Hauptsache zurück. Und das heißt nicht unbedingt zurück in die von Andy Warhol noch verschont gebliebenen Fünfziger — David Benedict sieht seine Landsleute ganz anderen Epochen verhaftet: „Dieses Land war noch nie allzu glücklich mit der Darstellung von Sexualität auf der Bühne oder in der Kunst im allgemeinen — außer sie ist 200 Jahre alt, und man sieht Frauen.“