Lieblingskind und Sorgenkind

■ Margit Rogall inszeniert im Stadttheater Aachen das Stück "Lenas Schwester" von Gundi Ellert/Eine Familientragödie aus weiblicher Sicht/Der Richtige ist doch der Falsche

Geschwister sind Rivalen, brüdergleich teilen heißt auch Zank, und schwesterliche Liebe ist auch Neid.

Lenas Schwester heißt Maria, aber ihre Empfängnis ist nicht unbefleckt. Zwar hat sie Paul, den Polizisten, abgekriegt, den auch Lena heimlich liebte, doch diese Ehe erweist sich bald als Kerker. Zwei Kinder werden ihr mehr aufgezwungen, als daß sie sie empfinge. Beim dritten rebelliert sie, treibt ab und flüchtet vor dem brutalen Unhold zu der sanften Schwester. Doch die erfüllt nun ihren Traum, Paul zu lieben. Der Schwestern Traumziel ist derselbe Mann. Derselbe harte Klotz enttäuscht sie beide. Geschwistersolidarität und Geschwisterrivalität ergänzen sich.

Gundi Ellert hat mit ihrem zweiten Theaterstück eine Familientragödie aus weiblicher Sicht geschrieben. Das im letzten Jahr in Kassel uraufgeführte Stück ist das zweite Werk der Münchner Schauspielerin. In Elena und Robert, das 1988 uraufgeführt wurde, ging es um Liebe unter alten Leuten, und auch in Lenas Schwester lastet die alte Generation noch auf den Jungen. Quälend langsam stirbt die Mutter, gepflegt von Lena. Der Vater folgt ihr nach unter die Grabplatte, nicht ohne vorher Maria zu verfluchen und zu schlagen.

Wiederholung heißt das Gesetz der Generationenfolge. Weil schon die Mutter eigentlich einen anderen liebte, den der Vater dann durch Denunziation ausschaltete, muß die Tochter nun unbedingt den sich holen, den sie zu lieben glaubt. Denn ihre Mutter gab Maria auf den Weg: „Werde nicht so wie ich!“ Und dann ist der Richtige doch der Falsche, wie bei der Mutter der Falsche zum Richtigen werden mußte. Die Ausbruchsversuche, die dem Gesetz der Wiederholung zu entkommen suchen, erreichen nicht mehr als eine Variation des Unglücksschemas.

Die Geschichte spielt im katholischen Provinzmilieu, in Bayern. Aber dennoch schreibt Gundi Ellert nicht einfach die Tradition von Horváth, Fleißer, Kroetz, Sperr und Specht fort. Sprachlich kommt das Milieu nicht vor. Die Dialoge sind knapp und klar. Ihre Poesie ist das Ergebnis von Abstraktion und Rhythmisierung. Zu Lena sagt die Mutter über Maria: „Sorgenkind“. Lena widerspricht ihr: „Lieblingskind“. Auf zwei Worte komprimiert, wird so das Dreieck Mutter-Tochter- Tochter fest umrissen. Der realistische Kleineleutemief ist gefiltert durch psychologische Analyse. Die dramaturgische Starrheit des Stationendramas wird gelockert durch eingeschobene Traumsequenzen. Was die jungen Frauen aktuell erleben, wird bezogen auf die Kindheitsmuster der Vergangenheit.

Diese antirealistische Linie des Stückes wird in der Aachener Inszenierung von Margit Rogall forciert. Keine Spur von Spülküchenrealismus. Der Heimatfilm kommt auch als Zitat nicht vor. Spröde, schnell und schrill wird der Dialog in durchweg hektischer Erregung hochgespielt. Das Schweigen, aus dem die Sprache kommt, und die bilderreichen, stummen Träume kommen da zu kurz. Statt Milieu und Poesie bietet die Inszenierung Distanz und Ironie. Wenn Maria in der Kirche ketzerisch den Tod des ungeborenen Lebens herbeibeten will, kniet Lena neben ihr und liest murmelnd Gretchens Schmerzensmonolog aus Goethes Faust.

Die antiklerikale Linie ist der andere Strang des Stückes, den die Inszenierung uns zeigen will. Das Bühnenbild von Randell Greenlee tut da sein Bestes. Wir blicken auf einen Kirchenraum in Renovierung. Verpackt, verschnürt, eingewickelt und vernagelt sind Beichtstuhl, Kruzifix, Decken und Wände. Irgend etwas wird hier stranguliert und erstickt. Die Regie nutzt diese Baustelle der falschen Frömmigkeit ausgiebig und mit Lust an der Blasphemie. Die Autorin hatte einen Monolog Marias vor ihrer Abtreibung mit Fetzen aus der Erstkommunionsfibel, gesprochen von einem Kind, konterkariert. Der Regisseurin war das nicht genug. Bei ihr sitzt Maria statt auf dem Gynäkologenstuhl im Beichtstuhl, in der nämlichen Haltung, und am Ende kommt aus dem heiligen Gestühl in hohem Bogen ein Plastikembryo herausgeflogen. So wird auch für den begriffsstutzigen Zuschauer die These bebildert: Die repressive Sexualmoral der Kirche produziert erst die Abtreibung, die sie bekämpft.

Der Höhepunkt dieses gut katholischen Spiels mit dem Sakrileg ist der Schluß: Lena und Maria gehen zum Grab ihrer Eltern. Paul, von beiden verlassen und heruntergekommen zum Penner, will sich ihnen nähern. Die nun desillusionierten Schwestern fesseln den Hilflosen, schleppen ihn zum Kruzifix und bringen ihn in die Positur des Gekreuzigten. Da, nun leide du, du Schmerzensmann, wie du uns leiden ließest, scheinen die siegreichen Frauen zu sagen. Eine bös-ironische Imitation Christi aus feministischem Zorn.

Soviel die Inszenierung dem Stück auch schuldig bleibt an träumerischer Sinnlichkeit und mitfühlender Identifikation, so befreit sie doch das Stück auch von Sentimentalität und Pathos.

Gundi Ellert: Lenas Schwester. Regie: Margit Rogall. Bühne: Randell Greenlee. Mit Barbara Portsteffen, Sabine Martin, Wolf Jahncke. Stadttheater Aachen, Kammerspiele. Weitere Vorstellungen: 26., 29., 30.3. und 3., 4., 5., 6., 7.4.