Frankreichs Rechte macht Jagd auf einen „Vaterlandsverräter“

■ Der Geschichtsdozent Georges Boudarel war Umerzieher in Gefangenenlager der Vietminh/ Entlassung des „Vaterlandsverräters“ gefordert

Paris (taz) — „Boudarel, Verräter des Vaterlandes, du wirst sterben“, steht auf dem Klohäuschen vor der Universität Paris-Jussieu. Gleich daneben ruft der Schmierer nach Le Pen, der Leitfigur der „Front National“. Das neue Opfer gibt der französischen Rechten Auftrieb. Georges Boudarel — vor vier Wochen war der Name des Geschichtsdozenten nur einigen Studenten und Vietnam- Kennern bekannt, heute polarisiert er die Franzosen.

Bei einem Kolloquium des Senats am 13. Februar hatte der frühere Staatssekretär im Ministerium für Kriegsveteranen, Jean-Jacques Beucler, die angebliche Bombe zum Platzen gebracht. „Sind Sie der Georges Boudarel, der im Kriegsgefangenenlager der Vietminh wütete?“ fragte er den geladenen Sachverständigen. Den erstarrten Senatoren erklärte Beucler: „Die Todesrate in diesem Lager war höher als in den KZs der Nazis. Die Zuhörerschaft sollte wissen, mit welch schändlichem Mann sie es zu tun hat. Boudarel, Sie haben Blut an den Händen.“ Seither fordern die Konservativen vehement die Verweisung Boudarels von der Universität. Beucler beabsichtigt, den Mann im Namen von 18 ehemaligen Häftlingen des Lagers wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ anzuklagen.

Tatsächlich hat der heute 64jährige nie verleugnet, daß er sich 1950 auf die Seite der vietnamesischen Widerstandsbewegung geschlagen hatte. Als politischer Kommissar versuchte er während des Indochinakriegs, gefangene französische Soldaten zum Marxismus zu bekehren. Blut hat er jedoch nicht an den Händen: In den Lagern der Vietminh gab es keine physische Folter; viele Häftlinge starben an tropischen Krankheiten und aufgrund der schlechten Ernährung.

Frankreich verurteilte Boudarel in Abwesenheit wegen Wehrverweigerung und Desertion zum Tod. 1966 erließ de Gaulle ein Gesetz, das alle Vergehen im Zusammenhang mit den Ereignissen in Algerien und Indochina amnestierte. Kurz darauf kehrte Boudarel nach Frankreich zurück, distanzierte sich vom Stalinismus und vom späteren Vietnam- Regime, nicht jedoch von seinem Engagement für die Unabhängigkeit des Landes.

Ob Boudarel in seinem antikolonialistischen Engagement zu weit gegangen ist und sich an den Gefangenen schuldig gemacht hat, „das läßt man ihn am besten mit seinem Gewissen ausmachen“, sagte Bildungsminister Lionel Jospin, den die Rechtsradikalen daher zum „Komplizen“ erklärt haben. Diese schwer entscheidbare Frage spielt in der öffentlichen Diskussion auch kaum eine Rolle. Statt dessen wird der Kolonialkrieg aufgerollt.

Für die Rechten ist Boudarel vor allem ein Vaterlandsverräter. Der 'Quotidien de Paris‘ nimmt in seiner Empörung kein Blatt vor den Mund. „Boudarel ist seinem Schicksal entkommen, das ihn vor ein Erschießungskommando hätte führen müssen“, heißt es in einem Leitartikel. Die Rechtsradikalen — Front National und die monarchistische Action Fran¿aise — nutzen die Affäre, um ihre Version des Indochinakriegs zu verbreiten: Die Vietminh habe ebensolche Verbrechen begangen wie die Nazis.

Die Dozenten und Studenten der Sozialwissenschaftlichen Fakultät von Jussieu stehen geschlossen hinter Boudarel. „Ich bin stolz darauf, daß mich ein Professor unterrichtet, der den ,schmutzigen Krieg‘ verweigert hat“, sagt Sophie. „Boudarel war einer der wenigen, die gegen den Rassismus der französischen Kolonialisten Stellung bezogen haben.“ Er werde jetzt von Leuten angegriffen, für die die Entkolonialisierung eine persönliche Niederlage war. Wenn Boudarel von der Uni verwiesen würde, dann müßten erst mal alle Verbrechen auf den Tisch, die Franzosen in Indochina und Algerien begangen hätten. Allein in Indochina sollen mehr als 9.000 Häftlinge in französischen Lagern gestorben oder hingerichtet worden sein. Bettina Kaps