“Unvorstellbar,daß es so weit von zuhause sein soll“

■ Die Sowjetrussin Jelena Iwanowa fand nach 50 Jahren den Namen ihres Mannes im KZ Bergen-Belsen

In Bergen-Belsen verdeckt Heidekraut gnädig das Grauen. 50.000 Juden, Zigeuner, politische Gefangene und Homosexuelle kamen hier im Konzentrationslager um. Erdhügel über Massengräbern sind ihre letzte Ruhestätte. Tausende von Menschen aus aller Welt, die nicht vergessen wollen, besuchen die Stätte alljährlich.

Im März 1991, kurz vor Ostern, wandern zwei auffallend altmodisch gekleidete Frauen über die weite Fläche. Sie verharren vor der Inschriftenwand hinter dem hohen Obelisken und tauchen in die mahnenden Worte in kyrillischer Schrift. Dann wenden sie sich ab und erreichen abseits des ehemaligen KZ-Geländes eine eiserne Pforte. Unter dem nicht enden wollenden Panzerlärm, Kanonendonner und Gewehrfeuer des angrenzenden Truppen-Übungsplatzes der NATO bahnen sich die Frauen einen Weg durch den Heidesand, bis sie nach zwei Kilometern die Lichtung eines Kiefernwäldchens erreichen.

Dr. Rolf Keller von der Verwaltung der KZ-Gedenkstätte, der sie begleitet, weist auf das 1945 von einem Leningrader Künstler errichtete Mahnmal: –Hier sind begraben 50 000 sowjetische Kriegsgefangene, zu Tode gequält in deutsch-faschistischer Gefangenschaft.“ Die 57jährige Jelena Kriwonossowa Iwanowa hat in diesem Moment ihren Vater wiedergefunden. Laut liest sie die russische Inschrift: „Eure Mütter, Brüder und Schwestern werden euch nie vergessen.“ Jetzt endlich kann sie weinen. Seit Sommer 1941 hat sie mit ihrer Familie auf ein Lebenszeichen ihres Vaters Iwan Breussow gewartet, der mit 28 Jahren in Smolensk in deutsche Gefangenschaft geriet.

Fünfzig Jahre Jahre später teilte ihr der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes mit: Gestorben am 31.12.1941 in Bergen- Belsen. Bei Eintreffen der Nachricht dachte Jelena nur eins: „Unvorstellbar, daß es so unendlich weit von zuhause entfernt sein soll.“ Die dunkelhaarige Frau aus dem sibirischen Omsk und ihre Tochter Galina Semibratowa Nikolayewna, eine 36jährige Lehrerin aus Saratow an der Wolga, legen rote Nelken an den Gedenkstein für die 50.000 toten Landsleute. Keiner ist namentlich auf einem Stein verewigt, die Erde des Heidewäldchens hat sie anonym aufgenommen.

In der Bibliothek der Gedenkstätte zelebrieren die Frauen anschließend mit Wodka, Speck, Fisch und Brot eine Gedenkmalzeit an den toten Iwan Breussow. Später, am Abend, als die beiden den Zweck ihrer tagelangen Bahnreise aus Sibirien erfüllt sehen und zum Übernachten in Lüneburg eintreffen, läßt dort der Pastor von St. Nicolai, Folker Thamm, die Glocken läuten und eine Andacht halten. Sein eigener Vater ist in Rußland verschollen.

Jelena und Galina waren die ersten Verwandten der 50.000 Kriegsgefangenen, die Rolf Keller in Bergen-Belsen empfangen konnte. Für eine Ausstellung über das bislang kaum beachtete Schicksal der toten Russen, die im Juni eröffnet werden soll, bekam er in den letzten Monaten erstaunliches Material in die Hände. Angehörige von Wachleuten übergaben bislang unbekannte Fotos und Schriftstücke, Fotoalben wurden anonym zugeschickt. Lager wie in Belsen gab es in der Heide noch in Oerbke und Wietzendorf: Als im Juli 1941 die ersten tausend Russen eintrafen, gab es nur umzäunte Flächen unter freiem Himmel.

Im Winter setzte das Massensterben ein: Zehntausende starben in Erdhöhlen an Hunger, Kälte und Seuchen. Die Gefangenen verschlangen Baumrinden und Gras, tranken verseuchtes Wasser. Das Massensterben war entgegen internationaler Konventionen von Nazis und Wehrmachtsführern gewollt. In einem Aufruf an die Soldaten der Ostfront machte Hitler klar, was er von den Rotarmisten hielt: „Dieser Feind besteht nicht aus Soldaten, sondern aus Bestien.“ Es ging um die Ausrottung des politischen Gegners.

So ist wenig verwunderlich, daß sich der Bürgermeister von Wietzendorf im August 1942 gegen eine Anordnung des Landrats in Soltau wandte, der die Wege zu den Kriegsgefangenenlagern gesperrt haben wollte. So werde „wertvolles Anschauungsmaterial entzogen“. „Es kann nicht schaden, wenn sich die Bevölkerung diese Tiere in Menschengestalt ansieht.“ Das rege zum Nachdenken an, „was geworden wäre, wenn diese Bestien über Deutschland hergefallen wären“.

Dagegen beklagte sich der Kommandant des Mannschafts- Stammlagers XD 310 Wietzendorf beim Landrat darüber, daß „zahlreiche Schaulustige sich am Stacheldrahtzaun aufhielten.“ Karin Toben, dpa