Beim Betteln können zehn Minuten lang sein

■ Im Westen 6,82, im Osten 4,21 DM: Der Stundenlohn für Bettler ist am Alex gleich schlecht wie vor dem KaDeWe

Berlin. »Jeden Tag eine gute Tat, armer Mann freut sich über ein wenig Wechselgeld, Danke.« Ich schiebe das Pappschild unter meinen Mantel. Der Himmel ist bewölkt, es nieselt. Mit einem blauen Müllsack unter dem Arm eile ich an der Gedächtniskirche vorbei in Richtung Kaufhaus des Westens. Es ist zehn Uhr morgens. Aus dem Europacenter strömen die ersten vollbepackten Kunden.

Eine Stunde will ich im Westen Berlins betteln, eine weitere im Osten. Zunächst vor dem KaDeWe am Wittenbergplatz und dann vor dem ehemaligen Centrum-Kaufhaus am Alexanderplatz. Ich bin unruhig: In Gedanken sehe ich mich auf dem Bürgersteig sitzen und der Pudel einer ehemaligen Freundin naht ... peinlich wäre das. Doch wie peinlich muß erst jemandem zumute sein, der im Leben wirklich gestolpert ist, der den anderen zu Füßen liegt und nicht mehr hochkommt.

Nach Angaben des Senats leben 7.000 registrierte Obdachlose in Berlin. Tatsächlich sind es doppelt so viele, die Dunkelziffer ist hoch. Voraussetzung für den Empfang von Sozialhilfe ist eine polizeiliche Meldeadresse. Einige Obdachlose besorgen sich diese pro forma, andere schaffen auch das nicht mehr.

»Es ist nicht leicht, in die Knie zu gehen«, schießt es mir durch den Kopf, als ich vor dem KaDeWe nach einem geeigneten Platz suche. Der Bürgersteig ist naß. Die Passanten schauen jetzt schon abschätzig. »Willste ooch wat schnorren?« spricht mich ein etwa 25jähriger von der Seite an. Ich nicke. Er führt mich zu seinem Bruder, der Harald Juhnke verblüffend ähnlich sieht und mit einem mächtigen Tatterich einen Schuhkarton beschriftet. Beide kommen aus dem Osten, haben ein Jahr in einem Übersiedlerheim in Westdeutschland verbracht und sind seitdem auf »Platte«. Ich helfe »Harald« mit dem Schuhkarton. »Wir haben Hunger«, soll auf der Pappe stehen. »Wir essen zwar morgens und abends bei der Kirche«, verraten die beiden, »aber man will ja ooch mal eenen zur Brust nehmen und 'ne Fluppe roochen.« Die beiden drücken mir zum Abschied die Hand. Ihre Hände sind vernarbt, die Fingerkuppen gelb, die Nägel sind gebrochen und schwarz umrandet. Meine Hände sehen gar nicht aus wie die eines Bettlers.

Vor dem KaDeWe, an der Schaufensterfront, ist Betteln verboten. Nur am anderen Rand — zur Straße hin, bei den Bäumen — werden Bettler geduldet. Ich gehe zu dem Bäumchen gegenüber dem Haupteingang: Müllsack (mit Decken gefüllt) auf die feuchte Erde, Pappschild und Hut (Baskenmütze) in Position und dann den Atem anhalten. Nun muß etwas geschehen, doch was? Vielleicht stürzt das KaDeWe ein? Oder alle Leute bleiben stehen, glotzen mich an, zeigen mit Fingern auf mich? Ich atme aus. Nichts geschieht, die unzähligen Beine vor mir traben weiter. Langsam schaue ich auf. Die Passanten interessieren sich mehr für die Schaufensterauslagen als für mein Pappschild. Es riecht nach Parfüm, Rasierwasser und Plastiktüten. Zwischen Haupteingang und Schaufenster hängt ein Schild: Unser Finanzservice — Mit leistungsstarkem Partner schnell, sicher, unkompliziert Bargeld... Im Schaufenster rechts daneben werden — zu meiner Verblüffung — Puppen mit Gras, Blumen und Gemüse bekleidet. Links aus dem Haupteingang stiert ein Wachmann zu mir hinüber.

Eine Frau um die fünfzig, mit schwarzen Lackschuhen und Bügelfaltenhose, wagt sich heran und wirft eine Mark in meinen Hut. Aus der Entfernung, im Gewühl der anderen Hosen, Röcke und Schuhe, hätte ich nicht auf sie als mögliche Spenderin getippt, eher z.B. auf ein paar bequeme Schuhe mit Fußbett. Ein Türke wird von seinem Freund fast zurückgehalten, als er mir Geld gibt. Ein Straßenmusikant mit löchrigen Turnschuhen und geschulterter Gitarre läßt Kleingeld aus seinen schmutzigen Fingern in meinen Hut fallen. Das berührt mich, ich möchte aufstehen und ihm das Geld zurückgeben.

Ungefähr alle zehn Minuten stoppt einer im Defilee, macht eine Bemerkung oder gibt etwas Kleingeld. Zehn Minuten können lang sein: Scharen ziehen vorbei und übersehen meinen stummen Hilferuf.

Ich blicke hinüber zum U-Bahnhof Wittenbergplatz. »Harald« und sein Bruder sitzen vor dem Eingang. Ihr Kopf ist gesenkt. Trotz der Entfernung spüre ich ihre Niedergeschlagenheit. Zwei Mitarbeiter einer örtlichen Radiostation drücken sich in meiner Nähe herum. Schließlich trauen sie sich: »Dürfen wir eine Frage stellen?« Ich fordere: »Erst was in den Hut!« Sie kramen ein paar Groschen aus ihren Taschen. Ich beschließe, im Gegenwert zu antworten.

Meinem Schild habe ich inzwischen ein zweites hinzugefügt, um klarzustellen, daß ich nicht dem Hedonismus fröne und Almosen nicht mißbrauchen will: »Rauche nicht, trinke nicht und nehme keine Drogen.« Und dennoch: Meine Schilder bringen die Vorbeiziehenden nicht aus dem Gleichschritt. Auch wenn ich nach einer Stunde 6,82 DM im Hut habe, betrübt mich die Ignoranz der Massen.

Szenenwechsel: Am Alexanderplatz regnet es nicht mehr, die Sonne scheint. Doch die Stimmung ist alles andere als heiter. Obwohl der Platz belebt ist, hallen allein die Rufe der Verkäufer und Hütchenspieler. Keine Schreie oder laute Gespräche, die Ostberliner selber wirken bedrückt. Während ich auf dem Weg vom KaDeWe zum Bahnhof Zoo mindestens 20 Bettler gesehen habe, bin ich auf dem Alexanderplatz der einzige. Vor dem ehemaligen Centrum-Kaufhaus lege ich Hut und Schilder zurecht und setze mich. Neben mir bietet ein Händler eisgehärtete Messer feil: »Bei dem Angebot muß das Portemonnaie doch von alleine aufgehen, was meinen Sie...« Die Ostberliner schweigen.

Ich schaue in die Runde. Irgendwo am Alexanderplatz gab's im letzten Jahrhundert ein Arbeitshaus, in das Bettler und Obdachlose zur Zwangsarbeit geschleppt wurden. Für jeden Bettler, den die sogenannten »Bettelvögte« einsammelten, bekamen diese eine Kopfprämie. Im November 1845 wurden 293 Berliner wegen Herumtreibens von den »Bettelvögten« aufgegriffen.

Eine Frau, die schon dreimal an mir vorbeigelaufen ist, wirft ein Markstück in meinen Hut, läuft dann schnell weiter, als ob es ihr peinlich wäre. Mein Schild wird oft gelesen, wenn auch aus möglichst großer Entfernung. Einige stellen sich zum Schein an den benachbarten Händlerstand, um mich zu beobachten. Die Schuhe der meisten sind noch aus VEB-Produktion, die Schuhindustrie kann sich die Hände reiben. Ein vielleicht zwölfjähriger Junge legt 20 Pfennig in meinen Hut, dann eine Frau weitere 50 Pfennige, aber wortlos, niemand kommentiert die Spende. Nach einer Stunde sind es 4,21 DM. Ich muß weg hier. Keine Minute länger will und kann ich die Ostberliner an der Nase herumführen.

Zurück am Bahnhof Zoo drücke ich das Geld einem völlig verwahrlosten Berber in die Hand (am Alex habe ich keinen gefunden). Denn — ein Münchner Psychologe testete die Spendenfreudigkeit und fand heraus: »Je verwahrloster ein Bettler ist, desto weniger wird ihm geholfen.« Dieser Bettler bekam 50 Pfennig in zwei Stunden. Ludger Fleer