Sinopolissimo oder sinopolos?

■ Die „Otello“-Premiere in Berlin

Grell und plakativ, die Bühne für Verdis düster gefärbten Otello — und doch unsäglich langweilig dieses Einerlei von bedenkenlos über Himmel und Erde gezogenen Linien, scheinbar wahllos zusammengestelltem Ausstattungsgelumpsch, das den Hafenplatz und den Schloßgarten, verschiedene Gemächer des Palastes andeutet. Der Spielleiter einer englischen Wanderbühne, der nach Ablauf der an großen Opernhäusen üblichen Vorbereitungsfristen vom Dirigenten durchgedrückt wurde, sorgte für die Bewegung der singenden Figuren auf der Bühne — das heißt er drapierte sie nach den Bedürfnissen des Kapellmeisters so, daß das Unternehmen Jago nur ein Zentrum, ein wirklich bewegendes und bewegtes Moment erhält: die beständig rührenden Arme des Herrn S.

Es darf als Kennzeichen der Amateurdirigenten gelten, daß sie mit Kraft und Körpereinsatz wettzumachen versuchen, was an technischem Können fehlt. Sie kurbeln Begeisterung an, wo es um die hochdifferenzierte Hervorbringung eines äußerst komplexen künstlerischen Vorgangs geht. Auch Herr S. gehört zu den Leuten, die zu funktionaler Zeichengebung am Pult nicht befähigt oder nicht willens sind. Er fuchtelt nur für die Kapelle und einen für deratige Animation empfänglichen Block im Publikum. Die Sänger würdigt er kaum je eines Zeichens (so daß sie, anstatt sich aufs Singen konzentrieren zu können, wie die Maikäfer zählen müssen). Herr S. absolviert zur Musik Verdis mit allzeit zu aufwendigen Bewegungen ein Jogging- Programm, als müsse er sich und seinen Fans beweisen, daß er herz- kreislauf-mäßig noch mithalten kann. Nicht einmal dem Orchesterklang freilich, den er für seine Domäne hält, ist solcherart der Sache äußerliches Schau-Geschäft dienlich. Die Kapelle dümpelt entweder samtsanft dahin — oder sie fetzt los, brüllt und lärmt in undifferenziertem Fortissimo.

Ein Teil des Orchesters der Deutschen Oper in West-Berlin setzt fortdauernd auf den dirigierenden Herrn S., der sich viel auf sein „Doktorat der Medizin“ zugute hält; die Orchesterleute wollen mit diesem Kapellmeister zu einer neuen Dimension von Nebentätigkeit (also: Nebenverdienst) vorstoßen und ihn direkt beim neuen Kultursenator als Generalmusikdirektor durchsetzen. Das berechtigt zur Frage an den Generalintendanten der Deutschen Oper, Götz Friedrich, ob er glaube, mit seiner Personalpolitik hinsichtlich der Dirigenten an seinem Haus eine glückliche Hand gehabt zu haben.

„Im Prinzip ja“, meint Friedrich, und bestätigt, daß man insgesamt mit Jesus López Cobos zehn Jahre lang gut gefahren sei, zumal in dieser Zeit auch hervorragende Gastdirigenten in das Haus an der Bismarckstraße kamen — „Daniel Barenboim, Horst Stein und vor allem auch Giuseppe Sinopoli. Daß der den ihm angebotenen Vertrag als Chefdirigent zurückgab, stellt mich vor eine kritische Situation. Sie öffnet jetzt jedoch auch den Weg, neue Überlegungen anzustellen — gerade in Zusammenhang und Kontrast mit den Überlegungen zur Staatsoper Unter den Linden, wenn diese von Barenboim nicht nur musikalisch, sondern insgesamt künstlerisch geleitet wird. Es wäre der bequemste Weg, das nächste große Namensschid an die Deutsche Oper zu hängen — eine Lösung, die Geld, aber nicht viel Phantasie braucht.“ Götz Friedrich sucht einen jungen, dynamischen, international schon ein wenig bekannten, aber doch in seinen künstlerischen Arbeitsprozeß noch einzubindenden Chefdirigenten, der „realistisch so viel Zeit zu Verfügung stellen kann, daß eine echte Orchesterpflege, eine wirkliche Bindung an dieses Haus und vor allen Dingen auch die Zusammenarbeit mit dem Intendanten möglich ist“. Götz Friedrich möchte sinopolose Zeiten an seinem Haus wiederherstellen — aber die Claqueure des Herrn Doktor am Dirigentenpult wollen diesen Vorturner der wohlfeilen Effekte als Generalmusikdirektor Berlins inthronisiert sehen. Das Kräftemessen ist alles andere als entschieden.

Frieder Reininghaus