Die Restauration der Aura

■ Robert Wilson inszeniert Richard Wagners „Parsifal“

Ein Feuer also mußte es sein. Es lodert am Ende inmitten eines Weltenkreises, der auch schon vorher geleuchtet hat, jedoch elektrisch und dezent von innen heraus. Jetzt aber dürfen die echten und wahren Flammen sogar ein wenig rauchen (Gas wahrscheinlich) und sollen daran denken lassen, was der Gral wäre, der unverhüllte. Ein Brennen also, etwas, woran sich jemand wärmen könnte, nur ist niemand mehr da, der davon etwas hätte. Amfortas muß tot sein, glauben wir dem Textbuch und ein bißchen dem Orchester, das da ganz abgemagert im Klang seine Leitmotive exekutiert, nur ist er hier nicht gestorben, auch nicht erlöst worden durch den heilenden Speer, der ihn einst unheilbar verwundet hat. Nein, der unglückliche König tritt nur zurück, schreitend, wie er am Anfang auftrat, in Begleitung seiner Knappen und eines Sargkastens, weggetreten wie Gurnemanz, der biedere Baß, für den Kurt Moll sehr verdienten Applaus bekommt; und geht aufrecht ins elfenbeinfarbene Licht im Hintergrund wie Parsifal, der diesen dritten Akt in Schwarz und mit heruntergelassenem Helm betreten hat, wie es sich gehört. Jedoch ohne den Speer in der Hand, den wir nie zu sehen bekommen, weil ihn Siegfried Jerusalem, der sehr gute Tenor, nur pantomimisch andeuten darf, und das ist nun mal weniger seine Sache als das Singen.

Ausnahmsweise hilft es dem Verständnis entscheidend weiter, wenn wir wissen, wie das alles entstand. Robert Wilson hat seine Szenen mit Statisten bis in jede Handbewegung hinein ausgearbeitet. Als er damit zufrieden war, durften die Sänger zusehen und mußten danach die Vorlage kopieren, Sequenz für Sequenz und im Zeitlupentakt. Da hat es für den pantomimischen Speer nicht mehr gereicht, was vielleicht hinzunehmen wäre, loderten am Ende nur nicht diese veritablen olympischen Flammen. Sie verraten den Regisseur und sein Konzept, vielleicht beleuchten sie auch nur ein Mißverständnis, das sich um ihn gerankt hat. Kunsträume aus Licht habe er für Theaterstücke entworfen, die ihr Personal nur als expressionistische Metaphern da hineinschicken durften, so mochte man bisher glauben. Der Effekt war eine Befreiung des Dramas vom Zwang zur Psychologie, so schien es, gewiß nicht die erste der Geschichte, aber doch eine sehr aktuelle, weil Wilson mit modernster Beleuchtungstechnik und amerikanischer Unbefangenheit alle möglichen Bedeutungsmythologien über Bord warf.

In dieser formalen Distanz zur Tradition scheint das Theater aufzuleben, und so beginnt auch Wilsons Hamburger Parsifal mit einer Exposition der Mittel. Undeutlich in Braun gehüllt, liegt Kundry an der Rampe, dunkel steigt die Unisono- Version des Abendmahlmotivs aus dem Orchester auf, blaues Licht, bald aber wird sich der Gazevorhang aufrollen und sein Wellenmuster dadurch in Bewegung geraten, als streife eine Morgenbrise jenen See, der die Welten des Grals und des verworfenen Klingsor trennt.

Weiß sind die Gesichter der Gralsritter, ihre Augenhöhlen schwarz, und minutiös gesteuerte Verfolgerscheinwerfer trennen die Köpfe von den braunen Kutten. Noch scheinen diese Bilder sich ganz zu lösen von der Handlung und hinzuweisen auf die Musik, die sich da Note für Note entfalten könnte. Lauter Neurosen wären zu hören, überreizte Geigentremoli, und diese komisch plumpen Fanfaren, die Parsifal ankündigen, den Ritter mit dem verklemmten Horn. In Hamburg allerdings scheitert diese letzte Oper Wagners mal wieder am Dirigenten, dem jedesmal nur das Klischee einfiel, das auch mitklingt, aber nicht seine Kritik, nicht das plötzlich wieder rückwärtsgewandte, dadurch zerbrechende Harmoniegerüst, in dem die alte Sinnenpracht wie zerschlissene Fetzen hängt. Auch an die vielen unwagnerisch lakonischen Wendungen muß man sich in Hamburg mühsam erinnern, denn Gerd Albrecht, der Chefdirigent der Staatsoper, hat sie so elegisch wegdirigiert, daß das Blech oft nicht mehr recht weiß, wann sein Einsatz kommt. (Was auch den Geigen nicht guttut.)

Das ist schlimm, denn eigentlich gehörte solches Wagnergetute der Vergangenheit an, eigentlich hatten wir ja gelernt zuzuhören, gerade in diesem Bühnenweihfestspiel, das so weihevoll nicht ist, weil es die Weihe nur inszeniert, aber nicht an sie glaubt. Die Partitur zumindest wäre mühelos als Destruktion des eigenen Mythos zu entziffern, wie denn auch der Umstand zu denken gibt, daß das Kunstheil des Grals nur auf dem Wege des Zölibats zu verwirklichen sei.

Zu denken gäbe Wilson aber, um auf ihn zurückzukommen — musikalisch ist lediglich noch eine Fehlbesetzung der Kundry erwähnenswert. Der Magier des Lichts hat aufgehört zu denken. Er will zum Feuer der Bedeutung. Kundrys große Verführungsszene vermittelt etwa halb soviel Erotik wie ein Wachsfigurenkabinett. Wilson will ans Ende, er raunt zunächst im Dialog mit sich selbst, indem er sich zitiert und etwa den bösen Klingsor noch einmal in jenen Kasten steckt, aus dem im Black Rider, dem Freischütz des Tom Waits, schon der Teufel kam, und er raunt, anders als in diesem Erfolgsstück des Thalia-Theaters, mit einem Wagner des mythischen Stoffs. Von der fallenden Taube ist nur der Flügel eines Reichsadlers übriggeblieben, der, majestätisch über den gesamten Horizont gespreizt, allmählich im Kunstsee versinkt. Wer da noch an eine kluge Überfrachtung des Friedens- mit dem Kriegssymbol dachte, wird bald belehrt, wenn der weißleuchtende Weltenring herabschwebt. Ein Eisberg muß paßgenau heranschwimmen, in dessen Spitze das Kästchen sitzt, das nun, feierlich im Kreis getragen, die greifbare Allmacht des Grals verkündet.

Noch immer überraschen die Farben des Lichts, diesmal vorwiegend mit Irritationen von Braun und Blau, aber sie wollen keinen Freiraum mehr schaffen für die anderen Dimensionen des Wortes und der Musik. Sie identifizieren sich mit der vermeintlichen Botschaft und stellen jene Aura der Heiligkeit wieder her, die in der Partitur auseinanderbrach. Das Brennen eines Feuers selbst, nicht mehr das kunstvoll gefilterte Licht, ist deshalb das letzte Wort. Mit Wagner hat es glücklicherweise wenig zu tun, wohl aber mit dem Ende eines ästhetischen Programms, dessen extreme Mittel zu Beginn dem Publikum die Freiheit der Wahrnehmung zurückgeben wollten. Sie sind in einen neuen Absolutismus jener kultisch verlangsamten Handlungen umgeschlagen, die ja Wilsons Bühnenfiguren schon immer zelebriert hatten. Nun aber sind wir dran, die große Geste schlägt in den Saal zurück. Wer die Hamburger Lokalpresse der letzten Wochen las, konnte vermuten, in der Staatsoper werde gerade eine Stück Theatergeschichte geschrieben. Vielleicht trifft das zu, dann aber stehen dunkle Zeiten bevor.

Niklaus Hablützel