Leipzig — kein Ort für Zwischentöne

Bei der Leipziger Montagsdemonstration überwogen die kämpferisch-simplen Parolen/ SPD-Prominenz hielt sich zurück  ■ Aus Leipzig Matthias Geis

Der spektakuläre Auftritt der SPD- Oberen in Leipzig blieb aus. Und spätestens als Oberbürgermeister Lehmann-Grube (SPD) am Montag abend ans Mikrofon trat, um den Demonstranten auf dem Augustusplatz „zu zeigen, daß ich an ihrer Seite stehe“, war klar, daß die demonstrative Zurückhaltung der angereisten Parteichefs Vogel und Thierse klug kalkuliert war: Die Rede des von Hannover nach Leipzig gewechselten Genossen ging in Pfiffen und Buh-Rufen unter. Denn einer, der an diesem Montag vor der Oper den enttäuschten Einheitsverlierern kundtun wollte, daß er hier „nicht gegen Kohl“ demonstriere, daß er überzeugt sei, kein verantwortlicher Bonner Politiker „will uns Böses“, der hatte an diesem Abend nichts zu gewinnen. Die Stimmung der Demonstranten traf der Präsident des Arbeitslosenverbands, Klaus Grehn, der die angereisten „Arbeitslosen, Arbeitsplatz-Gefährdeten, auf Kurzarbeit Gesetzten oder Abgewickelten“ mit einfacher Gestricktem begeisterte: „Feuer unter den Hintern machen“ wolle man jetzt „einigen Damen und Herren in Bonn“; „Wir fühlen uns nicht verkohlt, wir fühlen uns beschissen“ oder „Wer Kohl säht, wird Sturm ernten“. Mit solch bescheiden-populären Parolen wurde Grehn an diesem Abend eindeutiger Zustimmungssieger noch vor dem Hauptredner, IG-Metall- Chef Franz Steinkühler, der mit seiner Rede immerhin geschickt die rhetorische Balance zwischen populärer Polemik und bedächtigeren Zwischentönen halten konnte. Wer wie Steinkühler in seiner Rede davon sprach, daß „die Folgen der Wirtschafts- und Währungsunion vermeidbar“ gewesen seien, wer seine Überzeugung bekundete, der 1.Juli 91 — der D-Mark-Jahrestag — dürfe nicht zum „Tag der sozialen Katastrophe“ werden, dem sah die Menge auch den Hinweis auf die Schwierigkeiten in den neuen Bundesländern nach, die nicht durch falsche Bonner Politik verursacht worden seien.

Auch mit seiner klaren Absage an eine große Koalition, die ohnehin nur „zur Verwischung der Verantwortlichkeit“ führe, traf Steinkühler den Willen der Demonstranten. Ihnen, den „Entmutigten, Enttäuschten und Bedrängten“, werde die Gewerkschaft auch dann zur Seite stehen, „wenn wir dafür verleumdet werden“. Bei der anschließenden Demonstration über den Ring schlenderte Steinkühler dann eher unbeteiligt weit vor dem Zug, die angereiste SPD-Delegation hielt sich ganz am Ende. So wurde auch nur der Eindruck einer kämpferischen Phalanx aus SPD und Gewerkschaften — gegen Bonn und für die darbenden Neu- Bundesbürger — an diesem Abend sorgfältig vermieden.

Die SPD wartet ab

Keine allzu schnellen Festlegungen der Marschroute, keine billige Polemik gegen die Bundesregierung, keine spektakulären Aktionen — die SPD wartet ab. Spielraum für die Oppositionspartei für bedächtig-abwägende Analysen, bei denen immer auch ein Gran wohlwollend-verantwortungsbewußtes Verständnis für die Regierenden zugegeben wird: So jedenfalls präsentierte sich die SPD- Führung bei der Podiumsdiskussion nach dem Marsch über den Leipziger Ring, so klang auch schon die Formulierung auf den Einladungszetteln: „Thema: Aktuelle Probleme in den neuen Ländern“ — „Achtung! Bitte lesen und weitersagen“.

Aus Hans-Jochen Vogels „besonderem Gefühl, auf der Straße zu demonstrieren, von der die Revolution im Herbst 89 ihren Ausgang genommen hat“, läßt sich derzeit jedenfalls kein aktuelles Umsturzbedürfnis herleiten. „Wir hätten den Menschen die Wahrheit gesagt, sofort gehandelt und bereits Anfang März letzten Jahres das Drängende auf den Weg gebracht.“ Das ist fast schon das Äußerste, was Vogel an Kritik zu geben bereit ist. Und dann, eine realistisch- faire Formulierung, in der auch die Mitverantwortung der Opposition für den Einheitskurs der Bundesregierung mitzuschwingen scheint: „Auch wir wären nicht in der Lage gewesen, die gewaltigen Aufgaben ohne soziale Härten durchzuführen.“ Außer Ingrid Matthäus-Maier, der auf dem Podium der Terrier-Part zufällt, analysierten auch Wolfgang Thierse, Renate Schmitt und der kundgebungslädierte Lehmann- Grube „die aktuellen Probleme“ eher in Pastelltönen. Matthäus- Maier immerhin ist während der Kundgebung immerhin noch „die Wut aufgefallen, wenn der Name Kohl kommt“.

Solidarität untergraben

An konkreten Alternativen zum Regierungskurs bietet die SPD-Prominenz „Entschädigung vor Rückgabe“, um die Investitionsbarriere abzubauen. Wer die Entschädigungen zahlen soll? Der „Staat Bundesrepublik Deutschland“, der Steuerzahler. Das sei allemal sinnvoller, als jetzt die Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Außerdem: Veränderte Prioritäten für die Arbeit der Treuhandanstalt, Sanierung vor Privatisierung. Immerhin spricht sich Wolfgang Thierse für personelle Änderungen bei der Treuhand aus, läßt aber offen, ob er damit den in der Diskussion attackierten Chef Rohwedder (SPD) meint. Ansonsten konzentriert sich die Kritik am Regierungskurs auf dessen psychologische Folgen: Mit ihren Versprechen habe die Bundesregierung nicht nur die Ost- BürgerInnen maßlos enttäuscht, sondern zugleich die Solidarität des Westens untergraben. Doch, so Thierse, wenn das Bewußtsein für die notwendige „Umverteilung von West nach Ost“ nicht vorhanden sei, wenn der Westen das Gefühl des saturierten „weiter so“ pflege, seien die Perspektiven düster.

Ob das Bewußtsein für die notwendige Umverteilung durch einen Sternmarsch der Ossis am 1. Mai, wie ihn Arbeitslosen-Präsident Grehn auf der Kundgebung propagierte, geschärft würde? Die SPD jedenfalls begegnet dieser Idee mit Zurückhaltung. Unterbezirksführer Karl-August Kamilli hält die Beteiligung der SPD für eine „Frage der praktischen Abstimmung hier in Leipzig“. Vogel immerhin warnt vor den Maßstäben, die die Friedensbewegung mit ihren großen Bonner Demonstrationen in Bonn gesetzt habe, und erklärt ansonsten den 1. Mai zum Tag der Gewerkschaften.