INTERVIEW
: Özals Verständigungsversuch mit den Kurden ist Realitätsbewußtsein geschuldet

■ Ümit Firat, ein in Istanbul lebender kurdischer Publizist, über den Versuch des türkischen Staatspräsidenten, die bisherige repressive Kurdenpolitik zu reformieren

taz: Turgut Özal schlägt jetzt, nach dem Golfkrieg, plötzlich ganz neue Töne an. Es gibt Reformversprechungen en masse. Woher dieser Sinneswandel?

Ümit Firat: Heute wissen wir, daß innerhalb des Staatsapparates bereits seit geraumer Zeit Konzepte für eine verändertes Herangehen an die Kurdenfrage diskutiert wurden. Auf der anderen Seite gab es immer die Staatsideologie, wonach jeder Bürger Türke ist und es offiziell keine Kurden gibt. Özals ökonomische Interessenlage — er verfolgt die Integration mit den USA und dem Westen — haben ihn dazu gebracht, einige Tabus zu durchbrechen. Seit Özal 1984 die Regierung übernahm, bedrängte ihn der bewaffnete Kampf in Kurdistan und der Druck des Westens in der Kurdenfrage. Er hat erkannt, daß es keinen Ausweg mehr gibt. Özals Zeitplanung war perfekt. Hätte er die Reformen vor einem Jahr angekündigt, hätte das den Eindruck erweckt, daß der bewaffnete Kampf ihn zu diesem Schritt gedrängt hatte. Mit dem Krieg und insbesondere nachdem klar wurde, daß die Diktatur Saddam Husseins nicht mehr überlebensfähig ist, war für ihn der günstigste Zeitpunkt gekommen. Wenn die Türkei die Repressionspolitik gegen die Kurden weiterführen würde, hätte das die Konsequenz, daß die Bestrebungen nach Gründung eines unabhängigen kurdischen Staates die Oberhand gewinnen würden. Genau das will Özal verhindern. Er will die territoriale Integrität, die heutigen Grenzen der Türkei nicht gefährden. Das ist Realpolitik.

Wie interpretieren Sie die scharfen Reaktionen in der regierenden Mutterlandspartei und in den Reihen der Opposition gegen Özals Reformkurs?

Die Staatsideologie von der Existenz einer geeinten türkischen Nation hat großen Einfluß — auch auf die Mehrheit der Intellektuellen in der Türkei. Die „Sozialdemokratische Volkspartei“ empfindet sich als Nachfolgeorganisation der Partei, die die türkische Republik gegründet und die Staatsideologie hervorgebracht hat. Sie ist konservativ und ebendieser Staatsideologie verhaftet. Ebenso die „Partei des Rechten Weges“. Die Mutterlandspartei ist eine neue Partei, die erst 1983 gegründet wurde. Doch auch ihre Reihen sind voll von Vertretern der alten Ideologie. Viele Faschisten sind nach '83 in die Mutterlandspartei eingetreten. Jeder Reformschritt wird von diesen traditionalistischen Kräften bekämpft.

Özal hat sich vor wenigen Jahren noch mit Saddam Hussein darauf geeinigt, daß türkische Flugzeuge kurdische Stellungen im Nordirak bombardieren können. Heute führt er den Dialog mit den kurdischen Führern Nordiraks...

Nachdem klar war, daß Saddam verliert, war Özal bestrebt, den Schaden für den türkischen Staat zu begrenzen. Eine Politik der Feindschaft gegen die Kurden im Irak ist einfach politisch unklug. Die Türkei kann in der gegenwärtigen politischen Konjunktur die Entwicklungen im Nordirak nicht aufhalten.

Will Özal Schutzpatron der Kurden im Irak werden?

Ja, er spielt zumindest mit diesem Gedanken. Er will verhindern, daß der kurdische Bundesstaat, der im Begriff ist, sich im Nordirak herauszubilden, der Türkei feindlich gesonnen ist. Er will nicht, daß dieser Bundesstaat die Kurden in der Türkei aufhetzt.

In der Kurdenpolitik der Türkei herrscht Chaos. Auf der einen Seite die Ankündigung von Reformpaketen, auf der anderen Seite der staatliche Terror im Südosten der Türkei. Demonstranten werden erschossen, der prominente Sozialwissenschaftler Ismail Besikci wird verhaftet, kritische Publikationen werden beschlagnahmt. Wie lassen sich diese Widersprüche erklären?

In der Türkei hat die Regierung nicht über alles die Kontrolle. Ich glaube, auch innerhalb des Staatsapparates wird gegen Özal provoziert. Özal ist wahrlich nicht daran interessiert, daß Soldaten auf Heizkohle einsammelnde Kurden in Sirnak schießen. Das sind Provokationen, mit denen der Reformprozeß verhindert werden soll. In dem Zusammenhang sollten der türkische Geheimdienst MIT, der nationale Sicherheitsrat, in dem die Militärs sitzen, und die Counter Guerilla nicht vergessen werden. Sie wirken wie ein Staat im Staate.