Schatten des Niedergangs auf dem Leuchtenden Pfad der Kokagöttin

■ In Peru ließ eine liberale Militärstrategie die Kokapflanzer gewähren — die Guerilla „Sendero Luminoso“ hat daraufhin den Tritt am Rio Huallaga verloren/ Erst Substitution, dann Repression, lautet die Fujimori-Doktrin, um andere Anbauprodukte durchzusetzen

Wir haben die Schneegipfel der Anden hinter uns gelassen. Unsere zweimotorige Beechcroft verliert an Höhe und schwenkt langsam in ein breites und über mehrere hundert Kilometer parallel zu den Anden verlaufendes Flußtal ein. Dort unten schlängelt sich der Rio Huallaga mit seinen schlammigen Gewässern in Richtung des Maranon, der später zusammen mit dem Ucayali den Amazonas bildet. Unser Begleiter zeigt auf die sanft ansteigenden Hügel am westlichen Talrand. Ob wir die dunkelgrünen Flecken sehen? Sie sind nicht so einfach zu erkennen, die Kokaplantagen in der dicht besiedelten, tropischen Landschaft. US- Journalisten nannten den Oberlauf des Hullaga, den Alto Huallaga, einmal das „Saudi-Arabien des Kokains“. Und tatsächlich: Bei genauerem Hinsehen sind es Unmengen dunkelgrüner, etwas bläulicher Flecken.

Gleich neben dem Huallaga zieht sich eine helle Linie entlang: die Schotterpiste der Carretera Marginal. „Die über diese Straße ablaufende Besiedlung wird den Bauern einen permanenten, stabilen und glücklichen Ort zum Leben gewährleisten.“ Wer da Anfang der sechziger Jahre ob des Baus dieser Straße im Optimismus schwelgte, war der Architekt Fernando Belaunde, dessen erste Amtszeit als Präsident Perus sich von 1963 bis 1968 erstreckte. Die Erschließung der zum Amazonasurwald abfallenden Andenhänge wurde zu einer Hauptstoßrichtung der Entwicklungsstrategie erklärt. „Die Zukunft gehört einer neuen Generation von Pionieren, Männer, die den Regenwald zähmen und ihm für alle Peruaner seinen Reichtum abringen werden.“ Zwanzig Jahre später mußte Architekt Belaunde, von 1980 bis 1985 erneut Präsident, sein freudetrunkenes Urteil revidieren: Ende der siebziger Jahre hatten die Siedler der Carretera Marginal nach Jahren der Landmisere den Anbau der schlecht bezahlten und nur schwer auf den Markt zu schaffenden legalen Agrarprodukte aufgekündigt, um sich voll und ganz dem Anbau der gut bezahlten und leicht zu vermarktenden Kokapflanze zu widmen. Mindestens 50.000 Hektar Kokaanbaufläche gibt es derzeit im Alto Huallaga. Die Carretera Marginal wird hin und wieder von Unbekannten an einigen Stellen verbreitert — nicht, damit Lastwagen voller tropischer Früchte ungehindert gen Fortschritt brausen können, sondern um für die Flugzeuge der kolumbianischen Kokainbarone, welche die Kokapaste im Huallaga abholen, improvisierte Landepisten zu schaffen.

Kaum 200 Meter von der Bretterbude des Flughafens entfernt, finden wir in Uchiza, mit 50.000 EinwohnerInnen Dreh- und Angelpunkt des Alto Huallaga, die ersten Anzeichen des weißen Goldrausches. Auf dem zementierten Vorplatz einer himmelblauen Hütte werden säuberlich ausgestreut, frisch geerntete Kokablätter getrocknet. Später wird der Besitzer die zu großen Ballen verpackten Blätter in ein verstecktes Laboratorium schaffen. Dort werden angeheuerte Arbeiter stundenlang auf den Ballen herumtreten, bis die mit Wasser und Schwefelsäure getränkten Blätter in dem mit Plastik abgedichteten Becken das Alkaloid Kokain freilassen. Die entstandene dunkelbraune Flüssigkeit wird dann, immer unter der Leitung eines improvisierten „Chemikers“, mehrfach mit Substanzen wie Natriumkarbonat, gebranntem Kalk und nochmals Schwefelsäure behandelt. Am Ende erscheint auf der Oberfläche des Gebräus eine schmutzig- helle Masse, die nur noch abgeschöpft, ausgedrückt und getrocknet werden muß, um sich zu handlichen Bällen formen zu lassen: die Kokapaste. Hier endet die Kontrolle der meisten Kleinbauern über ihr Produkt.

Eine Reihe von Zwischenhändlern, die „Traqueteros“, kauft die Kokapaste auf und bringt sie entweder direkt zu den Lagerstätten der „Colochos“, der Kolumbianer oder ihrer Verbündeten oder aber zu anderen, ähnlich primitiven Laboratorien, in denen mit Ammoniak, Äther und Salzsäure die Kokapaste von Verunreinigungen gesäubert wird. Nur rund 20 Prozent der gesäuberten Kokapaste wird in Peru zum Endprodukt Kokain weiterverarbeitet — der Rest geht in die kolumbianischen Labore.

Als Drogenboß Gacha starb, fielen die Kokapreise

In einem Straßencafé in Lima hatte uns der Chilene Ibán de Rementería, der schon seit Jahren das Phänomen des Kokaanbaus beobachtet, kurz und eindringlich die Struktur des weltweiten Kokainhandels skizziert. Ibán schnappte sich eine Serviette und zeichnete einen dicken schwarzen Strich, der sich an beiden Enden vielfach verästelt. An den vielen kleinen Strichen des linken Endes befänden sich die Kokabauern, genau gegenüber auf der anderen Seite die Konsumenten. Die Verästelungen ständen für die vielen — in Peru Traqueteros genannten — Unterhändler. Und der Strich in der Mitte? „Tja, das sind die ,Colochos‘. Sie kaufen die Kokapaste in Peru oder Bolivien auf, verarbeiten sie in Labors zum Endprodukt Kokain und exportieren das Zeug dann in die Industriestaaten. Wenn du den Handel zumindest eine Zeitlang unterbrechen willst“, sagt Ibán und tippt mit dem Kugelschreiber auf die Enden, die für Bauern und Konsumenten stehen, „ist es idiotisch, hier oder dort vorzugehen. Du mußt den Mittelbau angreifen.“

Nicht die jahrelangen Vernichtungsfeldzüge gegen die Kokaplantagen führten zu dem größten je dagewesenen Preissturz der Kokapaste, sondern ein Attentat in Kolumbien. Am 18. August 1989 ermordeten die Kokainbarone den populärsten Politiker Kolumbiens, den liberalen Luis Carlos Galán. Der darauffolgende Drogenkrieg führte zu massenweisen Konfiszierungen von Landgütern, Unternehmen und Flugzeugen des Medellin-Kartells — und er führte dazu, daß die flüchtenden Kokainbarone anderes zu tun hatten, als für Nachschub an Kokapaste zu sorgen. Im Alto Huallaga fielen die Preise für das Kilo gesäuberter Kokapaste blitzartig von 1.500 auf nur 600 US-Dollar. Ein weiteres Mal bewahrheiteten sich die ehernen Gesetze der Marktwirtschaft, die bei großem Angebot und kleiner Nachfrage einen Preissturz vorhersagen, als im Dezember 1989 Gonzalo Rodríguez Gacha, einer der ganz großen Drogenbosse in Kolumbien, erschossen wurde. Wieder fielen die Preise. Der Grund: Gacha verfügte im Alto Huallaga offensichtlich über ein groß angelegtes Aufkaufnetz für Kokapaste. Alle zehn Meter muß unser Jeep in Uchiza scharf bremsen und ein riesengroßes Schlagloch umfahren. Von dem vor dem Reiseantritt versprochenen „Hongkong im Amazonas“ ist in Uchiza nichts zu spüren. Sicher, für die verarmten peruanischen Verhältnisse fahren ungewöhnlich viele nagelneue Pick-up- trucks herum, und es gibt drei Banken, die Kokadollars aufkaufen. Trotzdem ist von den Dollarmilliarden, die hier in über zehn Jahren Kokaboom geflossen sind, kaum etwas geblieben und in die Stadt investiert worden. In den Läden herrscht eine ähnlich gähnende Leere an Waren wie in anderen Provinzstädten auch; von dem angekündigten lebhaften Handel mit Walkmen, Radios und Fernsehern japanischer Herkunft, mit denen Kolumbiens Drogenunternehmer ihre Dollars „waschen“, ist kaum etwas zu sehen. Raul García, Agraringenieur der Kooperative Alto Huallaga in Uchiza, die mit ihren rund 3.000 Familien Kokasubstitutionsprojekte in Angriff nimmt, bestätigt: „Uchiza ist noch nicht einmal der Schatten von dem, was es einmal war“.

Ende der siebziger Jahre erklärte die Militärregierung des Generals Morales Bermúdez den Kokaanbau im Huallaga für illegal. Seitdem sind unzählige Antidrogenkampagnen über die Bauern des Flußtales hinweggegangen. Während die Funktionäre der von den USA bezahlten CORAH-Behörde redlich darum bemüht waren, hier und da eine Kokapflanzung per Hand auszurupfen, sproß woanders gleichzeitig ein Vielfaches gen Himmel. Immer wieder stürmten die verschiedensten Einheiten der peruanischen Polizei irgendwelche verborgenen Pflanzungen und mißhandelten ihre Besitzer, konfiszierten Flugzeuge und Chemikalien, verhafteten den einen, töteten den anderen. Doch es nutzte herzlich wenig. Bei den niedrigen Preisen für legale Produkte wie Kakao und Obst war noch die mieseste Bezahlung für einen Sack Koka vorzuziehen. Raúl Marinas, ehemaliger Betriebswirt aus Lima, der vor zehn Jahren den „Anbau der Koka für sehr interessant befand“ und in die Umgebung Uchizas zog, erzählt über den nur vorübergehend von Repressionsmaßnahmen gebremsten Handel: „Wenn eine Woche das Geschäft einmal schlecht war, konnte man sicher sein, daß es in der nächsten wieder besser sein würde.“

Nur 35 Kilometer von Uchiza entfernt liegt Santa Lucía, das für drei Millionen Dollar 1989 gebaute „mächtigste Antidrogenfort“ der Welt, wie es in überschwenglichen Pressemitteilungen gefeiert wird. Bei genauerem Hinsehen handelt es sich weniger um eine Betonung der Antidrogenkreuzzüge als um eine unscheinbare Barackenansammlung, die von Minenfeldern, unterirdischen Tunneln und Wachtürmen vor Übergriffen der Drogenhändler geschützt wird. Elf moderne Kampfhubschrauber sind hier stationiert: Fast täglich transportieren sie, von US-Piloten gesteuert, peruanische Polizisten zu Einsätzen an die Kokafront. In den letzten Jahren ist sie heftiger geworden, die Repression. Früher steuerte die US-Regierung sechs bis acht Millionen Dollar jährlich für die Drogenbekämpfung in Peru bei. Heute, wo Präsident Bush die Drogen zu einer „Frage der nationalen Sicherheit“ erklärt hat, sind es über 30 Millionen Dollar. „Die Vernichtungsaktionen stören das Geschäft doch sehr“, bestätigt ein Bauer die beschränkte Effektivität der Maßnahmen. Sie „stören“ — aber verhindern tun sie nichts.

Neuer Kokakiller — das US-Herbizid „Spike“

In den Ebenen des Flußtales sind kaum noch Kokaflecken zu erblicken — dafür befinden sich die Plantagen halt an schwerer zugänglichen Berghängen. Oder ganz woanders: Die Repression im Alto Huallaga hat dazu beigetragen, daß weiter im Norden der mittlere Flußlauf des Huallaga, der Huallaga Central, zum neuen Eldorado der Koka wurde. Auch weiter im Süden nehmen die Kokaplantagen zu — die tropischen Berghänge der Anden Perus eignen sich überall zum Kokaanbau.

„Gegen uns wird ein chemischer Krieg geführt.“ Wie alle anderen Bauern beklagt sich Raúl Marinas darüber, daß seit etwa einem Jahr die Kokaplantagen langsam austrocknen. An den Hintergründen des Massensterbens der Sträucher hat Raúl keinen Zweifel: Aus US-Helikoptern wird an bewölkten Tagen irgendein Gift auf die Pflanzungen versprüht. Gesehen hat er das freilich noch nicht, ebensowenig wie seine Freunde. Aber das tut wenig zur Sache: „Ich will dir ehrlich sagen“, beteuert Raúl, „der Gringo ist intelligent. Er wird nicht so etwas anleiern, ohne daß es tatsächlich klappt. Gut, wir können nichts beweisen, aber das liegt daran, daß der Gringo nicht dumm ist.“

Auch in Tocache, etwa 30 Kilometer nördlich von Uchiza gelegen und der zweitwichtigste Ort im Alto Huallaga, erzählen uns die Kleinbauern, gäbe es kaum noch eine Kokapflanzung, in der die Sträucher nicht langsam austrockneten. Die Agrarkooperative Alto Huallaga von Uchiza schickte eine Pflanzenprobe an ein Laboratorium in der Schweiz. Das Resultat scheint Raúls Verdacht zu erhärten: gefunden wurden Spuren des in den USA hergestellten und wegen zahlreicher Warnungen vor ökologischen Schäden bislang offiziell nur „experimentell“ angewandten Herbizids Spike. Für den keineswegs US-freundlichen Ibán de Rementería stammt das Austrocknen der Pflanzungen trotzdem weniger von heimlich versprühten Pflanzengiften als von den Folgen jahrelangen Anbaus: „Nach fünfzehn Jahren intensiver Monokultur des Kokastrauchs mit seinen tiefen Wurzeln ist es fast normal, daß die Erde nichts mehr hergibt und Pilzerkrankungen auftreten.“

„Wir sind für alle der ideale Nährboden“ — schön drückt er das aus, der 50jährige Kokabauer David Guevara. Die Campesinos werden von der Polizei verfolgt und mißhandelt und von den Unterhändlern der Drogenbarone ausgebeutet. Schon sehr früh, Anfang der achtziger Jahre, erkannte die maoistische Guerrillabewegung „Sendero Luminoso“, wie auch die KämpferInnen des kleineren und weniger orthodoxen Movimiento Revolucionario Tupac Amaru (MRTA), was für ein revolutionäres Potential in Kokagegenden wie dem Alto Huallaga herangewachsen war. Die Zustände schrien fast nach der Präsenz einer Gruppe, die die Bauern beschützt, der brutalen Gewalt mit drakonischen Strafen eine Schranke setzt und inmitten der Illegalität des Kokahandels eigentlich staatliche Ordnungsfunktionen übernehmen sollte. Besser noch: In Kokaanbauregionen präsent zu sein, bedeutet, über eine schier unerschöpfliche Finanzquelle für die Revolution zu verfügen. In von der Guerrilla kontrollierten Gebieten wird von jedem mit Kokapaste vollgeladenen kolumbianischen Flugzeug ein Zoll von etwa 10.000 Dollar verlangt. In guten Zeiten bedeuteten diese Einnahmen, so die Schätzungen des Journalisten Rauĺ González, für Sendero Luminoso jährlich 50 Millionen Dollar.

Sendero ist eine Guerrillabewegung, deren skrupellose Brutalität oft die gleichfalls vorhandene, kaltblütig und über Jahre hinweg gut durchdachte Strategie zur Machtübernahme vergessen läßt. Auch im Alto Huallaga fiel Sendero nicht mit der Tür ins Haus, sondern entsandte erst einige als Kokabauern getarnte Vorboten, die in monatelangem Zusammenleben mit der Bevölkerung sowohl Informationen sammelten als auch die Infrastruktur für die später kommenden Guerrilleros vorbereiteten. Ab 1983 begannen an den Straßenrändern und Hauswänden die ersten Losungen Senderos aufzutauchen, während kleinere bewaffnete Aktionen gestartet wurden.

Sendero erstickt, erdrosselt und erwürgt

Zwischen 1984 und 1985 griff das Militär ein, ließ die Kokabauern in Frieden und versuchte so, dem „Fisch“ Sendero das „Wasser“ der Bevölkerung abzugraben. Für kurze Zeit schien Sendero besiegt, und in der Hauptstadt Lima zeterten kurzsichtige US-Experten, die Präsenz Senderos sei überhaupt nur von den Drogenhändlern vorgetäuscht worden, damit die Kokabauern in Frieden gelassen würden. Der Druck der USA erreichte, daß das Militär wieder von der mit der Kokabekämpfung beauftragten Polizei abgelöst wurde. Ein Fehler, der katastrophale Konsequenzen haben sollte.

Der Krieg begann Ende 1986, als Sendero nach jahrelanger politischer Arbeit großangelegte militärische Aktionen startete. Das erste Opfer war nicht etwa das Militär oder die Polizei, sondern die ebenfalls um die Unterstützung der Bevölkerung buhlende Tupac-Amaru-Organisation MRTA. Im März 1987 kam es in der Nähe von Tocache zur Entscheidungsschlacht am Alto Huallaga. Vierzig bis sechzig Menschen starben, als die Senderistas, die wahrscheinlich keine Skrupel hatten, Pistoleros der Drogenhändler zu Hilfe zu rufen, die feindliche „Revisionisten“ massakrierten. Von da an zog sich die MRTA nach Norden an den Huallaga Central zurück, wo ebenfalls viel Koka angebaut wird, während Sendero die Macht am Alto Huallaga an sich riß. Die Taktik, um sich die Kontrolle der Bevölkerung zu sichern, war und ist immer die gleiche. Nachdem Informationen über die Verhältnisse in einer Ortschaft gesammelt worden sind, taucht dort eines Tages ein Trupp von Senderistas auf und exekutiert als erstes potentielle Gegner, wie etwa Staatsbeamte oder Bauernführer, die sich nicht zu Sendero bekennen.

Danach werden die „Delegierten“, die neuen Autoritäten, von den Senderistas ohne Rückfrage bei der Bevölkerung bestimmt. Aussichtsreiche Kandidaten für diese Posten sind meist einflußreiche Bürger oder Händler, die für Sendero auch finanziell interessant sind. Patrouillen des „Leuchtenden Pfads“ kehren erst nach Wochen oder Monaten wieder, um die Bevölkerung zu fragen, wie sich die Delegierten benommen haben. Gibt es schwerwiegende Klagen, werden die Delegierten ermordet. „Weißt du, Sendero tötet nicht einfach. Es sind schreckliche Tode. Sendero erdrosselt, erstickt, erwürgt“, erzählt César Valdizán, der 23 Jahre junge Führer des Frente de Defensa de los Intereses del Pueblo, einer breiten Interessenkoalition der Bewohner Uchizas. Seine weit geöffneten Augen vermitteln ein bißchen von dem Grauen, das von Sendero mit seinen systematischen Denunzierungen und seiner Brutalität ausgeht. Fast unbewußt redet er gedämpfter, wenn die Sprache auf Sendero kommt — die Leute in Uchiza haben Angst.

Doch die Taktik Senderos basiert, so César, nicht allein auf Terror. „Nach einiger Zeit gewöhnen sich die Leute an das neue System.“ 1988 und 1989 war Sendero faktisch unbestrittener Machthaber am Alto Huallaga. Brücken und Straßen, die das Flußtal mit dem restlichen Peru verbinden, wurden regelmäßig zerstört, Entwicklungshelfer, Journalisten und Regierungsbeamte ermordet und viele Dörfer ganz vor Fremden abgeschottet.

Wer unter Preis handelt, wird getötet

Freilich beging Sendero auch Fehler. Um sich das Wohlwollen der Bevölkerung zu sichern, sollten die Preise für die Kokapaste festgeschrieben werden. „Das war schon gut, daß für anständige Bezahlung gesorgt wurde“, erzählt rückblickend ein Campesino in Tocache. „Wer unter dem Preis ver- oder aufkauft, wird getötet“, lautete die simple Losung. Exempel wurden auch tatsächlich an einigen Bauern, Traqueteros und Colochos statuiert. Die kolumbianischen Drogenhändler, die Sendero schon vorher mehr als militärisch unterlegen waren, zogen es angesichts der Feuerkraft Senderos vor, das Feld zu räumen und sich in andere Gegenden zu trollen — etwa an den Huallaga Central, wo die Tupac Amarus sehr viel toleranter sind. Sendero verjagte die Gans, die goldene Eier legte — eine Tatsache, die unter den Campesinos, denen es ja letztlich nur um den von der Kokapflanze mehr schlecht als recht gewährleisteten Lebensunterhalt geht, nicht gerade Begeisterungsstürme auslöste.

Trotzdem hätte Sendero auch diesen Faux-pas weitgehend unbeschadet überstehen können. Doch der nach 1987 zweite Angriff auf das Polizeihauptquartier Uchizas im Juli 1989 führte zur Ausrufung des Ausnahmezustandes am Huallaga — und zur Ernennung des Genrals Alberto Arciniega zum „politisch-militärischen“ Kommandanten der „Notstandszone“. Der „Triumphator des Alto Huallaga“, wie ihn ein Journalist halb ernst, halb ironisch nennt, ist ein ehrgeiziger Mann, der sich im Interesse der Öffentlichkeit für seine Person sichtlich sonnt. Nach Lima zurückgekehrt, ist er zum Berater des Verteidigungsministers in Sachen „Drogenhandel und Menschenrechte“ ernannt worden — ein Posten, der ihm nicht erlaubt, offizielle Erklärungen abzugeben. Das ist nicht weiter schlimm: Er empfängt Journalisten gerne zu einem „Off- the-record“-Interview im Verteidigungsministerium. Nach dem Gespräch zieht der hochgewachsene und mit seinem Schnurrbart elegant aussehende General dann wie zufällig aus einer Schublade Fotokopien von den Interviews hervor, die er am Alto Huallaga gab: „Die dürfen Sie zitieren.“

General Arciniegas Strategie, Mitte der achtziger Jahre schon einmal von anderen Offizieren vorgemacht, war ebenso simpel wie effektiv. Die Diagnose: „Wenn wir gegen 50.000 Kokabauern repressive Methoden anwenden, haben wir in Kürze 50.000 Rekruten des Sendero.“ Also müßten die Campesinos gut behandelt und der Kokaanbau toleriert werden. „Wenn wir es schaffen, daß die Bauern auf unserer Seite stehen, dann ist der Krieg gewonnen. Oder nicht?“ Innerhalb von sechs Monaten schaffte es Arciniega tatsächlich, Sendero weitgehend zu isolieren. „Die Senderistas kamen zu den Bauern und nannten ihnen eine Uhrzeit, um sich mit ihnen zu treffen und sie zu trainieren. Die Bauern suchten eine Militärpatrouille auf, nannten den Treffpunkt und erzählten, sie wollten da nicht mehr hingehen. Statt der Bauern sind dann wir aufgetaucht und haben sie (die Senderistas) fertiggemacht. Das ist der Schlüssel: das Volk.“ Einige der Gefechte arteten zu regelrechten Schlachten aus, bei denen sich die nur wenig um Menschenrechte scherenden Truppen Arciniegas Sendero mehrfach schlagen konnten.

Nun, ein Jahr danach, sind auf einer Hauswand in Uchiza die roten Lettern eines Hochs auf „Präsident Gonzalo“, sprich Abimael Guzmán, den Führer Senderos, weiß übertüncht worden — Sendero ist im Herzen des Alto Huallaga gar nicht und an der Peripherie nur noch teilweise militärisch präsent. Freilich scheint die Wandkritzelei immer noch durch die Tünche — viele politische Kader Senderos halten die Fahne hoch, gerüchteweise wird auch vom Wiederauftauchen der KämpferInnen des senderistischen Ejército Guerrillero Popular, der Volksguerrillaarmee, geredet. Viele fordern die Rückkehr des beliebten Generals Arciniega, der seit Anfang 1990 wechselweise von weniger kompetenten Offizieren abgelöst wurde.

Die Guerrilla ist den verschnupften USA egal

Das wäre der Alptraum der US-Botschaft in Lima. Die nämlich stand Kopf, als General Arciniega die Tolerierung des Kokaanbaus zum Teil der Bekämpfung Senderos machte. Bewußt wurde der Politik der Militärs entgegengesteuert, indem die Polizei, die von der Verfassung her für die Unterdrückung des Drogenhandels und -anbaus zuständig war, doch ermutigt wurde, noch härter als bisher gegen die Kokapflanzungen und Laboratorien vorzugehen. Die Polizei aber ist im Alto Huallaga so verhaßt wie niemand sonst. Immer wieder berichten die Campesinos über korrupte Polizisten, die sich nicht damit begnügen, Kokasträucher und Laboratorien zu zerstören, sondern auch noch die Bevölkerung mißhandeln. Die Stimmung unter den Campesinos — nicht unbedingt das Verhalten eines jeden Polizeibeamten — spiegelt sich in den Worten eines Campesinos in Tocache wieder: „Die Polizisten sagen, sie seien gegen die Verbrecher — dabei sind sie die größten.“

Trotz vielfacher Pressionen haben es die USA bislang nicht geschafft, die peruanische Regierung dazu zu bewegen, auch noch die Streitkräfte zum Kampf gegen die angebaute Drogenpflanze antreten zu lassen. Auch der seit Ende Juli amtierende Präsident Alberto Fujimori zieht es vor, Sendero zu bekämpfen, statt für die USA einen Drogenkrieg zu führen. Zudem, und das ist im verarmten Peru nicht zu unterschätzen, bringen die Kokaexporte dringend notwendige Devisen ins Land: nach Schätzungen 1,2 Milliarden Dollar jährlich, also rund 50 Prozent der legalen Exporteinnahmen. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen den USA und Peru sind so kraß, daß Alberto Fujimori, wie schon sein Vorgänger Alan García, im September die von den USA angebotene und an die Drogenbekämpfung gebundene Militärhilfe von zweistelligen Millionenbeträgen ausschlug.

Paradox an all dem ist, daß die brutale Unterdrückung von „Kommunisten“ und Guerrilleros jahrzehntelang Leitmotiv der US-Politik in Lateinamerika war. Jetzt, wo in Peru seit zehn Jahren eine wegen ihrer höchst strategischen Kriegsführung beständig wachsende Guerrillabewegung zu einer tatsächlichen Gefahr für die politische Stabilität der Region geworden ist, werden andere Prioritäten gesetzt.

Der Bürgermeister, der Schuldirektor, die Krankenschwestern, der Polizeikommandant, die Campesinos — alle sind sie auf der Veranstaltung in Tocache erschienen, um einen Funktionär der Vereinten Nationen zu begrüßen. „Tocache will Frieden“, plärrt es aus einem mitgebrachten Lautsprecherwagen, und die Bauern wedeln mit bunten Spruchbändern, auf welche die Wahrzeichen der erst im Januar gegründeten Agrarkooperative Tocaches gepinselt sind. Seit Jahren unterstützen die Vereinten Nationen im Alto Huallaga Projekte, um den Kokaanbau durch legale Produkte wie Kakao und Obst zu ersetzen.

Mit einer Landreform die Kokapflanzer gewinnen

Das von den Campesinos auf einer Festversammlung im Rathaus gezeigte Interesse ist keineswegs vorgetäuscht. Nicht nur, daß die Preise für Kokablätter gefallen und die Drogenhändler woanders hingezogen sind, auch das Leben in der Illegalität und die ständig drohende Vernichtung der Pflanzungen macht Substitutionsprojekte wünschenswert. Er sei es leid, bloß weil er Koka anbaue, überall schief angeguckt zu werden, meint ein Campesino. Damit Koka von anderen Produkten abgelöst werden kann, bedarf es freilich massiver Investitionen in die Region Alto Huallaga. Die Wunschliste der Kooperativen in Uchiza und Tocache reicht von Traktoren über Straßen bis hin zu einem Stromkraftwerk.

In Lima hat die „Juristenkommission der Anden“ errechnet, daß für eine erfolgreiche Substitution in fünf Jahren an die 1,3 Milliarden Dollar am Alto Huallaga und am Huallaga Central investiert werden müßten. Das ist viel Geld, aber nur ein Bruchteil der Milliarden Dollar, die Konsumenten in den USA und Europa jährlich in das Kokain stecken. Außerdem müßte klein angefangen werden, wie César Valdizán von der jahrelang gegen die Kokavernichtung protestierenden Frente de Defensa in Uchiza erklärt: „Erst müssen wir in einer unserer 42 Gemeinden mit der Substitution von, sagen wir, 20 Hektar beginnen, um danach den anderen das gleiche anzubieten. Wir müssen kleine Fortschritte machen und den Leuten nichts vorlügen — wenn nicht, nutzt Sendero das gleich aus.“ Den Kleinbauern mit weniger als einem Hektar, denen derzeit keine andere Alternative bleibt, als Koka anzubauen, müßte durch Besiedlung neuer Täler mehr Land beschafft werden. Und was ist mit den Campesinos, die die Koka nicht lassen wollen? „Wenn sie nicht mit der Substitution einverstanden sind, wird die Polizei ran müssen. Wir werden sie nicht mehr verteidigen“, sagt César Valdizán entschieden.

Die Kokapflanze schrittweise durch andere Anbauprodukte zu ersetzen und erst in einem zweiten Schritt repressive Maßnahmen folgen zu lassen — so lautet das im Oktober vorgestellte Konzept der peruanischen Regierung, die „Doktrin Fujimori“. Von dem unerfahrenen Politiker Alberto Fujimori, der aus heiterem Himmel Präsident Perus wurde, hat die Strategie freilich nur den Namen. Der Autor heißt Hernando de Soto, jener Leiter des Forschungsinsitituts ILD, der mit Studien über Perus „informelle“, nicht vom Staat erfaßte Wirtschaft internationales Ansehen erlangte. De Sotos Urheberschaft ist vor allem in einem Ansatzpunkt deutlich, bei dem die Fujimori-Doktrin eher verwaschen bleibt: An die Kokabauern müßten als erstes Landtitel vergeben werden, um sie in die legale Wirtschaft mit ihrem Vermarktungs- und Kreditsystem eingliedern zu können.

Die meisten befragten peruanischen Experten bezweifeln, daß es sich bei der Legalisierung der De- facto-Besiedlung durch Kokapflanzer um mehr als ein zweitrangiges Problem handelt — zumal viele Kokabauern gar nicht auf ihren Grundstücken leben, sondern nur von Zeit zu Zeit die Blätter ernten gehen. Aber immerhin: Die Doktrin Fujimori setzt mit ihrer Strategie andere Schwerpunkte als die kläglich gescheiterten Gewaltmaßnahmen, und ihr Ideologe Hernando de Soto scheint Wert darauf zu legen, weitere Schritte mit den Bauernverbänden vor Ort abzusprechen. Das Geld für die Substitution, daran läßt de Soto im Gespräch wenig Zweifel, müßte aus den Industriestaaten kommen. Verhandlungen mit den USA, die die Doktrin Fujimori nicht gerade begeistert aufnahmen, seien im Gange.

Auf dem Rückflug nach Lima erinnern wir uns an den freundlichen Polizeikommandanten Tocaches. Zum Abschied hatten wir ihn beiläufig gefragt, wann wohl der Frieden an den Alto Huallaga zurückkehrt. Er antwortete knapp, und seine Stimme klang mehr resigniert als optimistisch: „Wenn die Investitionen kommen.“ Wir blicken aus dem Bordfenster — unter uns ein Meer von Koka.

Ciro Krauthausen