Moskau vor der Kraftprobe

■ „Demokratisches Rußland“ will heute trotz Verbots vor den Kreml ziehen/ Konservative fordern auf dem russischen Volksdeputiertenkongreß den Rücktritt von Präsident Boris Jelzin

Moskau (afp/dpa) — Eine doppelte Kraftprobe wird am Donnerstag in Moskau erwartet. Im Kreml muß sich der russische Parlamentspräsident Boris Jelzin darauf gefaßt machen, daß der außerordentliche Russische Volksdeputiertenkongreß seinen Rücktritt fordert. Seine Anhänger sind unterdessen fest entschlossen, das Demonstrationsverbot der Regierung zu unterlaufen und massenhaft auf die Straße zu gehen. Der Sprecher der Reformbewegung „Demokratisches Rußland“, Lew Tschemajew, hat den Beschluß der Regierung am Dienstag als „illegal“ bezeichnet, während das Mitglied des Rechtsausschusses des sowjetischen Parlaments, Alexej Lewaschow, ihn als „nicht verfassungskonform“ charakterisierte.

Die Regierung hat für die Zeit vom 26. März bis 15. April alle Demonstrationen in Moskau untersagt, um, wie es hieß, einen reibungslosen Ablauf des Volksdeputiertenkongresses zu gewährleisten. Die Sicherheit in der Hauptstadt ist durch ein Dekret von Staatspräsident Michail Gorbatschow direkt dem Innenministerium unterstellt worden. Damit wurde der vom reformorientierten Moskauer Bürgermeister Gawril Popow ernannte Polizeichef Pjotr Bogdanow kaltgestellt.

Augenzeugenberichten zufolge wurden in den letzten Tagen mehrere gepanzerte Truppentransporter mit Soldaten ins Zentrum Moskaus verlegt. Die Presse trägt das Ihrige zur Anheizung der Stimmung bei. Rund um den Kreml sei mit Massenunruhen zu rechnen, schrieb die 'Komsomolskaja Prawda‘ am Mittwoch unter Berufung auf einen anonymen Anrufer, der sich als KGB-Mann bezeichnete. Das den Reformern nahestehende Blatt zitiert desweiteren den Moskauer KGB-Chef Prilukow mit den Worten, seine Leuten würden entschlossen und mit allen ihnen von Rechts wegen zustehenden Mitteln vorgehen. Ähnlich hatte sich am Dienstag das Mitglied des neu geschaffenen Sicherheitsrats, Wadim Bakatin, vor Journalisten geäußert: Man werde gegen etwaige Demonstrationen „keine gepanzerte Fahrzeuge und Spezialbewaffnung“ einsetzen, jedoch alle „notwendigen Maßnahmen“ zur Durchsetzung des Versammlungsverbots ergreifen.

Allerdings sind die Organisatoren der Demonstration aus den Reihen der Reformbewegung „Demokratisches Rußland“ überzeugt, daß es zu keinen Zusammenstößen kommen wird. Die Zahl der Demonstranten werde einfach zu groß sein, als daß es sich die Miliz leisten könne, gegen sie vorzugehen, so der Führer des radikalen Flügels der Reformbewegung, der Historiker Juri Afanassijew.

Die Reformanhänger haben ihre Stärke wiederholt unter Beweis gestellt. Erst am 10. März bekundeten 300.000 von ihnen auf dem Manegenplatz in unmittelbarer Nähe des Kreml ihre Unterstützung für Jelzin. Die Zentralregierung macht hingegen seit dem letzten Herbst zunehmend den Eindruck, orientierungslos zu sein. In dieser Lage bekamen die „konservativen“ Mitglieder der Kommunistischen Partei, die im russischen Volksdeputiertenkongreß über die Mehrheit verfügen, Oberwasser. Sie setzten die Einberufung der Sondersitzung durch, auf der sie Jelzin dafür zur Rede stellen wollen, daß er durch seine ständigen Auseinandersetzungen mit der Zentralgewalt das Wirtschaftsleben des Landes lahmlege.

Jelzin ist zum Kampf bereit. Er kann sich auf das Ergebnis des Referendums vom 17. März stützen, bei dem sich 70 Prozent der Wähler in Rußland für eine Direktwahl des russischen Präsidenten aussprachen. Sein Ziel ist es, sich Ende April/Anfang Mai zum Präsidenten wählen zu lassen und — auf diese Weise demokratisch legitimiert — die entscheidende Herausforderung mit Gorbatschow aufzunehmen.

Geschickt verweist Jelzin darauf, daß die seit vier Wochen streikenden Bergarbeiter ihn unterstützen. Auch sie trotzen der Aufforderung aus Moskau, ihre Aktion abzubrechen, und setzen die Arbeitsniederlegung statt dessen fort. Jelzin hofft, aus der bevorstehenden Kraftprobe gestärkt hervorzugehen, während die Regierung um ihre Glaubwürdigkeit fürchten muß, falls sie die Demonstranten und die streikenden Bergleute gewähren läßt.