: Die Wiederauferstehung der Elsenstraße
■ Vor einem Jahr wurde die Mauer zwischen Elsenstraße West und Elsenstraße Ost abgerissen/ Die Anwohner sind sich noch immer fremd
Die Straße lag ruhig und am Ende der Welt. Eine kurze, schmucklose Straße war es: auf 400 Metern ein Schuster, ein Friseur, ein Zeitungsladen, ein türkisches Lebensmittelgeschäft und eine Laubenkolonie namens Elsengrund. An der Ecke vorn eine Kneipe: Elsen-Eck. An der Ecke hinten noch eine Kneipe: Elsen-Treff. Man trank dort Schultheiß-Bier oder Berliner Kindl. Die Taxifahrer Berlins hatten den Namen der Straße vergessen. In die graue Elsenstraße fuhr nur, wer dort wohnte. Wer dort wohnte war arm und fuhr Bus.
Nach 400 Metern Elsenstraße in Neukölln stand dreieinhalb Meter hoch die Mauer und versperrte Fußgängern und Autos den Weg. Hinter der Mauer aber ging die Elsenstraße in Treptow über 1.200 Meter weiter: Bis zum S-Bahnhof Treptower Park, wo die weiße Flotte in der Spree vor Anker liegt. Wer in der Elsenstraße Nr. 83 wohnte und das 15 Meter entfernte Haus Elsenstraße Nr. 41 besuchen wollte, brauchte für den Weg eine Stunde. Doch das ist bloß Theorie. Denn jetzt, wo die Mauer weg ist, besucht niemand von der Elsenstraße West jemanden in der Elsenstraße Ost. Statt dessen hauen sich West-Elser und Ost-Elser lieber mal was aufs Maul: Im Elsen-Treff zum Beispiel, der kleinen Kneipe, die direkt am Todesstreifen liegt. Wenn die Tür des kleinen Grenzlokals geöffnet ist, weht ein schwerer, süßlicher Duft aufs Trottoir.
An dieser Stelle war die Elsenstraße einst zerschnitten. Wer sich nachts in die trostlose Gegend verirrt und die Straße hinunterblickt, bemerkt einen plötzlichen Wechsel der Straßenbeleuchtung. Im Westen scheint es weiß, im Osten leuchtet es gelblich. Das sechsstöckige Mietshaus an der ehemaligen Grenze hat keine Fenster mehr im Parterre, auch die Eingänge wurden zugemauert. Das Wohnen im ersten Stock war 28 Jahre lang verboten. Erst seit kurzem hängt wieder Wäsche auf dem Balkon. 28 Jahre lang war es ruhig an dieser Stelle. Nur manchmal wurde die Stille gestört: Durch Schüsse, die Grenzsoldaten auf Flüchtlinge abgaben, durch einen Ostberliner, der mit einem gestohlenen Schützenpanzerwagen 1962 die Mauer an dieser Stelle durchbrach, schließlich durch Bautrupps, die den Schutzwall im Sommer des vergangenen Jahres — seltsamerweise nur nachts — vollständig abrissen. Nun ist es auch tagsüber wieder laut. Die Elsenstraße ist eine der wichtigsten Verbindungen zwischen Neukölln und Treptow, auf der Lastkraftwagen entlangdonnern, Treptower und Friedrichshainer Richtung Hertie und Bolle fahren und die Neuköllner ihren Wochend-Trip ins Berliner Umland beginnen. Wochentags herrscht auf dem Ost-West-Verbindungsweg hektische Betriebsamkeit. Der Asphalt wurde aufgerissen, neue Gasrohre und Telefonleitungen werden verlegt.
Mehmet Ali Sevin hat auf die Veränderungen in seiner Straße vor einem Jahr schnell reagiert. Sein Lebensmittelgeschäft, das er sechs Jahre lang führte, lief ganz gut. Der Döner-Imbiß, den er im Oktober 1990 eröffnet hat, läuft aber noch besser. Im Herbst will er seinen Laden erweitern und ein richtiges Imbiß-Restaurant eröffnen. Mehr als die Hälfte seiner Kundschaft kommt nun aus dem Osten. Denn »drüben« gibt es nur zwei deutsche Pommes- Buden, nix Döner, nix Köfte. Mehmet Ali Sevin, der seit 24 Jahren in Deutschland lebt, erkennt die Ostler sofort. Die seien so gelb im Gesicht. Hätten wohl lange Zeit kein Obst und Gemüse gegessen. Außerdem bestellen die Broiler statt Hähnchen. Als der erste Ostler seinen Laden betrat und einen verlangte, stutzte der 49jährige Türke. Einen Boiler habe er nicht zu verkaufen. So was gebe es vielleicht in der Sonnenallee, riet er den Besuchern.
Doch, er kommt mit den Ostlern schon klar. Die regen sich zwar schneller auf und saufen außerdem mehr. Dann würden sie immer sagen, daß es ihnen früher viel besser gegangen sei. Und manchmal würden sie ihn beschimpfen, ihn, Mehmet Ali Sevin, der es nach 24 Jahren Deutschland zu bescheidenem Wohlstand gebracht hat. Erst letztens sei einer dagewesen, habe »Türken raus!« gebrüllt und dann einen Döner bestellt. Er hat keinen bekommen.
Corcy ist 17 Jahre alt und wird bald 18. Er wohnt in der Elsenstraße West. Außerdem hat er nichts gegen Ostler. Außer: »Die hängen mehr im Park rum wie wir, die saufen viel und machen, wenn die in 'ner ganzen Gruppe sind, 'n ziemlichen Brenner.« Soll heißen: Sie haben ein großes Maul. Corcy hat also nichts gegen Ostler. Aber vor kurzem war er mit seinem Kumpel Alex in einer Ostdisco, ganz in der Nähe der Elsenstraße. Der Eintritt war sauteuer, die Getränke mit Wasser vermischt, die Bedienung zickig und die Musik ziemlich dröge. Auf dem Nachhauseweg — »wir hatten 'n bißchen was getrunken, wa« — tauchten plötzlich sechs Skinheads auf. Die haben Alex einfach so was aufs Auge gehauen und sich mit den Worten »Schönen Abend noch« verabschiedet. Seitdem bleiben beide abends lieber im Westen.
Nein, neue Freunde aus dem Osten haben Alex und Corcy noch nicht gefunden. Einige aus der Elsenstraße Ost kennen sie vom Sehen, aus dem Elsen-Eck. Die seien ganz in Ordnung und würden nicht gleich ausflippen, wenn man sie fragt, ob sie aus dem Osten kämen. Nix gegen die Ostler, sagt Corcy. Aber wohl fühlt er sich nicht mehr, seit die Mauer weg ist. An der ampellosen Kreuzung gebe es laufend Unfälle, weil die Ossis das Rechts-vor-Links- Prinzip nicht blickten. Bei Bolle sei es nun sauvoll und Schlangestehen angesagt. Und Parkplätze gebe es auch keine mehr. Und wie die rasen. Mit 70, 80 Sachen durch die Elsenstraße. Dabei wohnen hier Kinder. »Eins hamse schon anjefahrn!«, pflichtet Andre (23) bei, der gegenüber vom Imbiß in Hausnummer 75 wohnt und gerade sein Auto repariert. Nix gegen die Ostler, ehrlich nich'. Irgendwas für die Ostler? »Der Treptower Park ist ganz gut«, meint Corcy.
Bei »Mini Car« verkauft Sieglinde Nordwig bis zum 30. Juni noch 43 verschiedene Typen von Modellfahrzeugen, die 40 Jahre lang das Straßenbild der DDR prägten. Dann wird sie abgewickelt. Frau Nordwig gehört zur Belegschaft eines an der Elsenstraße gelegenen Spielzeugbetriebes. Das von der Treuhand verwaltete Unternehmen ist nicht mehr rentabel, seit es nach der Währungsunion die meisten Großabnehmer verlor. Man hat es noch mal aus eigener Kraft versucht und den Umsatz über Privathändler steigern wollen. Es hat nicht gereicht.
Rund 30 Kunden schauen täglich in dem kleinen, schmucklosen Laden vorbei. Auf einem großen Tisch hat die 36jährige die Busse, Lastwagen, Militär- und Nutzfahrzeuge ausgebreitet. Der Fuhrpark des realen Sozialismus en miniature im Ausverkauf: Ende Juni ist alles vorbei. Auch ihr Mann, der im Buntmetallwerk Schöneweide arbeitet, verliert dann seinen Job. Frau Nordwig hofft auf eine Umschulungsmöglichkeit. Computer wäre wichtig, das braucht man ja jetzt. Ihren Mann braucht wohl keiner mehr. Er ist zu 50 Prozent schwerstbehindert und schon über 40. Die Stimmung, so Sieglinde Nordwig, sei generell schlecht. Zu mehr läßt sie sich einem Fremden gegenüber nicht hinreißen.
Im Frühstückslokal, Elsenstraße Ost, singt der Glücksspielautomat schon morgens um 9 Uhr sein Lied vom Erfolg. Die Kellnerin zapft um 9.15 Uhr das erste Bier, um 9.23 Uhr wird der erste doppelte Cognac ausgegeben. Ab und zu frühstückt mal einer, deftige Kost wie Rührei mit Speck. Der Computer singt drei Töne einer Oktave. Die sieben Gäste, die sich morgens um halb zehn auf das halbe Dutzend Tische verteilt haben, hören schweigend zu und starren die Glücksräder an. Ein Mann, Anfang 20, wirft Geldstücke in den Schlitz. Es wird kaum gesprochen, erst nach dem zweiten Cognac oder dem dritten Bier lösen sich langsam die Zungen der Kneipengänger. »Beschissen!« meint ein 45jähriger Kurzarbeiter auf die Frage, wie es ihm gehe. »Beschissen hamse uns vierzich Jahre lang. Nu hat uns Kohl nochma beschissen. Naja, wir sin det ja jewöhnt. Prost.« An der montäglichen Demonstration am Alexanderplatz hat er bisher noch nicht teilgenommen. »Det macht doch die PDS. Die sind alle wieder am Drücker!« Der junge Mann am Groschengrab drückt auf die Rückgabetaste. Er hat verloren.
Der Schuster Boris Silberfarb — »das e ist verlorengegangen« — ist ein nachdenklicher Mann. Vor sieben Jahren kam er als Spätaussiedler von Rußland nach Deutschland, seitdem betreibt er eine Werkstatt in der Elsenstraße West. Sein Handwerk hat er bei der Roten Armee gelernt. »Früher war es hier wie in der Lindenstraße aus dem Fernsehen!« meint er, doch die Idylle ist nun perdu. Der Mauer trauert er trotzdem nicht nach. Einen Ostschuster hat er kennengelernt, der ein paar Straßen weiter Absätze in Ordnung bringt. »Wir sind keine Konkurrenten und unterhalten sehr gute menschliche Beziehungen«, erzählt er, fast staatsmännisch. Wenn ihm mal ein Ersatzteil fehle, könne er rübergehen und sich was leihen. Und umgekehrt. Im übrigen sei das Schuhwerk der Ostler nicht schlechter als das der Westler. Mit der westdeutschen Turnschuhgeneration habe er, aus beruflichen Gründen, eh seine Probleme.
Was nun werden soll nach dem Mauerfall? Boris Silberfarb ist skeptisch. Die Skinheads, der Rassismus und der Antisemitismus, »das bringt zum Nachdenken«. Die wirtschaftliche Situation sei bald so wie 1932. Natürlich sei heute alles viel moderner und die Menschen wären viel gebildeter. »Aber breite Masse bleibt breite Masse!« meint der 39jährige und wünscht der Kundin mit den tschechischen Schuhen einen besonders schönen guten Morgen. Immer noch versetzt die kostenlose Freundlichkeit von Boris Silberfarb die Bewohner der Elsenstraße Ost in Erstaunen. Claus Christian Malzahn
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen