Es war einmal...

■ Einsame Alleen, weitläufige Landpartien und freundliche Rücksichtnahme im Stadtverkehr - was wie eine Utopie für Radfahrer klingt, ist jedoch längst Vergangenheit

Einsame Alleen, weitläufige Landpartien und freundliche Rücksichtnahme im Stadtverkehr — was wie eine Utopie für Radfahrer klingt, ist jedoch längst Vergangenheit.

TIL SCHULZ erinnert sich an seine Jugendjahre auf dem Fahrrad.

„Der Jugendrichter, Bremen, Schüsselkorb 3, Jugendrichterliche Verfügung. Du hast (vorgedruckt) am 17.10.1961 mit einem Fahrrad, an dem trotz Dunkelheit die Beleuchtung nicht brannte, den Radweg der Hollerallee befahren. Außerdem war die Glocke defekt, und die linke Pedale fehlte. Das ist eine Übertretung von §§ 23 und 49 der Straßen §§ 64a, 673 und 71 der Straßenverkehrsordnung und wird bewiesen durch...

Es wird Dir deshalb auferlegt, einen Betrag von DM 7,— an eine gemeinnützige Einrichtung, nämlich an

Der grüne Kreis Bremen (Konto...) zu zahlen...

Bremen, den 21. Nov. 1961, gez. Scholz, Oberamtsrichter.“

Beilage: „Zur Beachtung: Du bist schon sehr häufig wegen Verkehrsübertretungen aufgefallen. So geht es nicht mehr weiter! Bei einer erneuten Verkehrsübertretung mußt Du mit härteren Maßnahmen rechnen, insbesondere mit Arbeitsauflagen oder Vorlage der Akte an den Herrn Jugendstaatsanwalt zwecks Erhebung der Anklage. Durch Urteil kann sogar Jugendarrest gegen Dich verhängt werden. Der Jugendrichter gez. Scholz.“

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as habe ich nicht erfunden, sondern nur aufgehoben. As times go by... Heute würden wir diesem Typen einen dezenten Hinweis auf mögliche psychologische Therapien geben, wenn wir nicht dem notwendigen spontanen Drang nachgeben würden, ihm eine Streichholzschachtel Bronchialsekret zuzuschicken. Abgesehen von der Justiz — einmal kostete es mich drei Mark, weil ich nach der Schule, eher traumverloren, freihändig nach Hause fuhr — war das Radfahren in der Zeit eine schöne Sache. Touren mit einem ganz gewöhnlichen Hollandrad (Dreigang), das billigste und gesündeste Fortbewegungsmittel.

Damals, 1961, konnte man in den Sommerferien von Bremen nach Paris radeln, und ich habe das auch immer standhaft behauptet, obwohl es gelogen war, weil wir von Bremen nach Köln und zurück die Bahn mit Fahrradtransport benutzten. Aber immerhin, ab dann mit bescheidener Muskelkraft nach Aachen, Bruxelles, Lille, Amiens, Arras, Beauvais, Paris. Und später wieder zurück. Auf den Landstraßen Frankreichs, die nicht abgeholzt waren wie die deutschen, sondern nur durch Dörfer und Städte unterbrochene Alleen waren, kam alle zehn Minuten vielleicht einmal ein Auto vorbei. Wir beide konnten nebeneinander fahren und unendlich über die Dinge der Unendlichkeit reden, wie das 16jährige in dieser Zeit zu tun pflegten. 200 Mark — eine großzügige Dotation meines Vaters — mußten für vier Wochen ausreichen. Essen und Trinken war unproblematisch, es bestand aus Baguette und Limonade und irgendwelchem Fraß in ziemlich greulichen Jugendherbergen. Aber, stellt Euch vor: Auf diesen für die im Vergleich zur jetzigen Verkehrssituation absolut leeren Landstraßen machten wir Landpartien und amüsierten uns königlich.

Kühn, wie es nur junge Männer sein können, bogen wir nach Paris ein, wo schon zu dieser Zeit Radfahrer eine fast ausgestorbene Gattung darstellten (von den Verrückten, die für die Tour de France übten, einmal abgesehen). Die Franzosen lieben Fahrradfahren nur als diesen idiotischen Leistungssport oder als Notbehelf bei der Resistance. Wie der alte Herr Rohkohl von Radio Bremen seiner schönen Tochter einmal sagte: Wer friert, ist arm oder blöd — so sagen die Franzosen, daß, wer Rad fährt, sich ein Auto nicht leisten kann. So wird ein kleiner deutscher Junge, so wie es seinen Landsleuten in Friedenszeiten häufiger ergeht, als relativ sanfter und ungefährlicher Irrer eingestuft.

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as Image, das Radfahren in den frühen sechziger Jahren hatte, war hoffnungslos provinziell, rückständig, fortschrittsfeindlich und wurde nicht von ungefähr dem genetischen Code des Wandervogels oder anderer seltsamer Pfadfinder zugeordnet.

Zur Schule fahren, das war okay. Es ging eben schneller als mit der Tram. Aber wenn ich durch den Regen fuhr und leicht durchnäßt in die Schule kam, wackelte die Waldorfschullehrerin Osterselde mit dem Kopf und verkündete, daß die Strafe für solches Tun sei, mit spätestens 20 Jahren quälende Kopfschmerzen zu bekommen.

Zwar habe ich später an angemessenen Orten und nach gründlicher medizinischer Lektüre regelmäßig Migräne simuliert — die prophezeiten Kopfschmerzen jedoch sind ausgeblieben. (Frau Osterselde glaubte auch noch an den Storch, der die Kinder bringt, genauso wie einer meiner Mitschüler, der Psychoanalytiker geworden ist.)

Kurz gesagt: Innerhalb von dreißig Jahren ist aus einem Gerät, mit dem man fremde Länder bereisen konnte, ein rein innerstädtisches Verkehrsmittel geworden.

Die Schönheit der Route Nationale Nr. 3, die von Paris nach Deutschland führte, ist von einem Radfahrer nicht mehr zu genießen. Auf dieser Straße finden quasi deutsche Automobilralleys statt. Von einem Radfahrer, der da mithalten wollte, würde ich als Lebensversicherer den möglichen Auszahlungsbetrag als jährlichen Beitrag verlangen.

Damals sind wir quer über den Etoile gefahren, die Autofahrer haben uns so behandelt, wie sie heute Fußgänger bei Zebrastreifen behandeln: mitleidig. Heute kann frau/man auf den verkehrsreichen Straßen nicht mehr fahren (mit Ausnahme einzelner Städte). Wie jede Prohibition bedeutet dies Illegalität.

Der Radfahrer sucht Zonen, in denen er nicht Gefahr läuft, totgefahren zu werden. Schließlich geht es ums Überleben. Solche Zonen sind Fußgängerbereiche und Bürgersteige, daneben die Einbahnstraßen, die in umgekehrter Richtung durchquert werden. Warum? Es geht um den Blickkontakt. Ich habe von genügend bedauernswerten Opfern gehört, die brav und legal von hinten angefahren wurden, aufgrund des Schocks sich aber nicht die Autonummer merken konnten. Die Brutalität der Auto-Yuppies, dem Opfer in die Pupille zu sehen, ist noch nicht vorhanden.

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n den Lokalteilen mancher konservativer Zeitungen finden sich immer wieder Leserbriefe und Berichte über „rücksichtslose Radfahrer“ in diversen Fußgängerzonen, die angeblich gefährlicher sind als die blinkenden Bleifüße anderswo, die jährlich zwischen acht- und zehntausend Tote fordern. (Krüppel werden extra berechnet.) Von den blauen Flecken, die die Mitmenschen sich als Fußgänger holen, wenn sie von kurzsichtigen und rigorosen Einkäufern angerempelt werden, ganz zu schweigen. Es ist eine freche Lüge, wenn die Fußgänger als friedliche Spezies dargestellt werden — sie haben nur weniger PS.

Zusammengefaßt: Der Haß gegen die harmlosen Radfahrer entspringt der konservativen Ablehnung des spontaneistischen Lebensgefühls.

Das Radfahren in der Großstadt, aber auch auf den Landstraßen ist überlebensbedingt gesetzwidrig und anarchistisch, schwer zu regulieren. Kein Wunder, daß Bankräuber diesem Medium viel Interesse entgegenbringen...