„Alle putzen sich an mir ab“

Das Urteil gegen die Lainzer Krankenschwestern läßt viele Fragen offen  ■ Aus Wien Heide Platen

Erst stunden-, dann tagelanges, nervenzerrendes Warten war dem Urteil vorausgegangen. Die acht Geschworenen hatten sich schon am Mittwoch zur Beratung zurückgezogen, um sich in Beantwortung eines — fast an einen Prüfungsbogen erinnernden — dicken Fragekatalogs dem Schuldspruch anzunähern. Ihre Möglichkeiten reichten von Körperverletzung, fahrlässiger Tötung über Totschlag bis zum Mord. Die sechs Frauen und zwei Männer, die das ganze Verfahren über still und stoisch auf ihren Bänken gesessen hatten, erwachten in der Abgeschiedenheit der Beratung zu unerwartetem Erkenntnisinteresse. Am Donnerstag vormittag besserten sie die ihnen gestellten 247 auf 250 Fragen auf.

Den WienerInnen fehlt es offensichtlich — im Gegensatz zu vergleichbaren Prozessen in der Bundesrepublik — an Hysterie. Alles ist in den Kaffeepausen bis in das kleinste Detail erörtert, jede Regung der Verteidiger, der Richter, des Staatsanwaltes, der Angeklagten seziert worden. Der Sachverhalt des Massenmordes im Klinikum Lainz ist in den seriösen Zeitungen ebenso gründlich abgehandelt wie in den Gazetten. Der Ton ist, selbst in der 'Kronen-Zeitung‘, differenziert — und kein bißchen neutral. Kein Gedrängel, kein Schubsen am Eingang des Schwurlandesgerichts am Tag der erhofften Urteilsverkündung, sondern ein gelassenes Eintreten — nacheinander und geordnet, bitte schön. Das Publikum ist durchaus bereit gewesen, sich die Wege der Verteidigung anzuhören — oder sie mit einem ruhigen Kopfschütteln zu verwerfen. Daran, daß objektive Gerechtigkeit und subjektive Selbstgerechtigkeit schon in Einklang kommen werden, hegen sie keinen Zweifel. Die Rechtsanwälte der vier Angeklagten Waltraud Wagner, Irene Leidolf, Maria Gruber und Stefanija Mayer haben klassisch verteidigt, während des Verfahrens kaum gekämpft und sich ganz auf ihre ein wenig antiquiert wirkenden Plädoyers konzentriert.

Rechtsanwalt Wilhelm Philipp, der die Hauptangeklagte, die Hilfskrankenschwester Waltraud Wagner, vertritt, der ein Großteil der 42 zwischen 1983 und 1989 vermuteten Morde an alten und kranken Menschen vorgeworfen wurden, verhedderte sich in einer makabren Zahlenakrobatik. So wie Staatsanwalt Ernst Kloyber die Toten im nörgelnden Tonfall rechthaberischer Anklage hochrechnete, zählte sie Philipp hurtig wieder runter. Er hat seiner Mandantin damit keinen guten Dienst erwiesen. Daß sie eigentlich nicht töten, sondern „immer nur helfen und wiederum helfen wollte“ wirkt daneben gestelzt und aufgesetzt. Waltraud Wagner, in den letzten beiden Verhandlungstagen gebeugter und gebückter als je, mag die Aussichtslosigkeit ihrer Lage geahnt haben. Sie fühlt sich, und ist es während des Verfahrens schon lange, als Sündenbock. Stadträte, Chefärzte, Oberschwestern, die drei Mitangeklagten und deren Anwälte haben ihre Schuldzuweisungen gegen sie stereotyp aufeinandergetürmt. Die drei Kollegen von Philipp tun das jedesmal mit kafkaesker Höflichkeit: „Verzeihn's, werter Kollege, aber...“ In ihrem Schlußwort sagt Wagner bitter: „Alle putzen sich an mir ab.“ Die anfänglichen Versuche, in ihrem Geständnis andere, Mitschuldige, zu nennen, bekommen im Laufe des Verfahrens eher das Gesicht häßlicher Denunziation und Schutzbehauptungen. Niemand hat den stundenlangen Redefluß der Frau während der Vernehmungen geordnet. Dabei sind nicht nur die Verantwortlichen verschwunden, sondern vor allem die Namen der Opfer. Auch nach dem Urteil weiß niemand genau, am wenigsten die Angeklagten selbst, ob es wirklich diese oder jene waren, die durch ihre Nachhilfe vorzeitig zu Tode kamen. Sie können noch immer, das haben Indizien, Obduktionsbefunde und ärztliche Gutachten immerhin erwiesen, so oder so zu Tode gekommen sein. Das aber scheint — in Lainz starben während der sieben Dienstjahre der Hilfsschwestern immerhin mehrere tausend Menschen — ohnehin niemanden zu interessieren. Vom Recht der Nebenklage machte jedenfalls kein einziger Verwandter Gebrauch.