Cossiga — Irrlicht im Quirinalspalast?

Der Rücktritt des Kabinetts Andreotti ist vor allem ein Werk des Staatspräsidenten/ Vielen Italienern scheint Cossiga außer Kontrolle/ Vielleicht steckt aber auch ein präziser Plan hinter seinen Ausfällen  ■ Aus Rom Werner Raith

Indro Montanelli, Altmeister des Erzkonservativismus und ansonsten weder patriotischen noch sonstigen Kraftsprüchen abhold, fand den Mann schon vor Jahresfrist so abstrus, daß er ihm psychiatrische Behandlung anempfahl; für das Nachrichtenmagazin 'L'Espresso‘ ist er längst „außer Kontrolle geraten“, 'il manifesto‘ forderte im Herbst vergangenen Jahres ebenso wie Pietro Ingrao von „Partito democratico della sinistra“ vorige Woche seinen Rücktritt; Staatsrechtler wie Stefano Rodotá überlegen, wie man einen solchen Menschen seines Amts entheben kann: Francesco Cossiga, 63, 1985 mit der höchsten je erreichten Stimmenzahl der Wahlmänner (93 Prozent) in die Staatspräsidenten- Residenz am Quirinalshügel gehievt, in der ersten Hälfte seiner Amtszeit von den Karikaturisten eher in Filzpantoffeln und am Kaminfeuer dargestellt denn als Wadelbeißer, erweist sich seit gut einem Jahr als ein geradezu von Furien gehetzter, wild um sich schlagender, keiner noch so abstrusen Beleidigung abgeneigter Staatschef.

Obwohl ihm die Verfassung ausdrücklich vorschreibt, daß er über den Parteien zu stehen hat, tut er tagtäglich seine Meinung über politische Vorgänge kund; obwohl er, wiederum laut Konstitution, der Wahrer der nationalen Einheit sein soll, haut er auf ihm mißliebige politische Formationen wie die Demokratische Partei der Linken oder die oberitalienischen Ligen ein, fährt Attacken gegen Privatpersonen wie den längst aus dem Amt geschiedenen ehemaligen palermischen Bürgermeister Leoluca Orlando, weigert sich, vor einem ordentlichen Gericht über seine Tätigkeit als Verteidigungsstaatssekretär vor 20 Jahren auszusagen, schreibt dem Parlament vor, in welcher Weise dessen Ausschüsse ihn befragen dürfen (schriftlich — und keine mündlichen Nachfragen) und unterwirft selbst den Obersten Richterrat unverblümt seiner Zensur, wenn der sich z.B. mit der Frage der Kompatibilität von Richteramt und Mitgliedschaft in Geheimlogen befassen will. Selbstverständlich fällt er auch sämtliche Journalisten an, die es wagen, seine Weisheiten anzuzweifeln, bezeichnet einen 'Reuter‘-Korrespondenten wegen dessen Formulierung „symbolisch“ für das Golfkriegskontingent der Italiener schon mal als Hurensohn (wobei er das Wort „Hure“ durch Punkte ersetzt und dazusetzt, daß er es nicht sagt, weil der Vergleich mit dem Pressemann eine Beleidigung für das älteste Gewerbe der Welt sei) und denunziert Pazifisten als zu einem Gutteil maskierte Feiglinge. Dagegen seien Mitglieder der 1981 aufgeflogenen Geheimloge „Propaganda 2“ — oft genug Putschistenzirkeln nahestehend — ebenso wie die Kämpen der durch keinerlei demokratische Legitimation ausgewiesenen Geheimtruppe „Gladio“ gute Patrioten; so in einer Rede Mitte März.

Neuerdings hat er es auch mit der gesamten Regierung, obwohl die bis gestern noch von seinem christdemokratischen Parteifreund Andreotti präsidiert wird — sie ist ihm derzeit offenbar nicht genug Cossiga- freundlich: „Der Unterschied zwischen dem Ministerpräsidenten und mir ist, daß ich ihn ernennen und entlassen kann, während ich in meinem Amt bleibe.“ Sollte da jemand was dagegen haben, etwa das ganze Parlament, nun, dann „kann ich es auch auflösen“. Eine Begründung dafür brauche er nicht zu geben.

Am Montag, sofort nach seiner Rückkehr aus den USA, mußte Andreotti erkennen, daß Cossiga bereits alle Weichen gestellt hatte; die Häuptlinge der fünf Regierungsparteien — Christ- und Sozialdemokraten, Sozialisten, Liberale und Republikaner — sahen keinen Ausweg mehr. Am gestrigen Freitag reichte Andreotti seinen Rücktritt ein. Eine Alternative ist nicht in Sicht, und so werden, gelingt Andreotti nicht in letzter Minute noch eine Neuauflage seiner Koalition, Neuwahlen kaum mehr zu vermeiden sein.

Inzwischen rätseln nicht nur die Gescholtenen, was dieses Irrlicht im Quirinalspalast denn tatsächlich zu seinen fast täglichen, immer unkalkulierbareren Ausfällen treibt. Die Frage ist, ob hinter seiner wilden Keilerei nicht doch auch ein präziser Plan stecken könnte — und vielleicht nicht einmal ein von ihm selbst entworfener, denn seine Intelligenz hat bisher keine sonderlich großen Früchte gezeitigt, weder in seiner Zeit als Innenminister (zur Zeit der Moro-Entführung z.B. machte er so ziemlich alles falsch, was man falsch machen konnte) noch als Ministerpräsident (wo er dem Terrorismus auch nicht durch Reformen, sondern durch die brutalsten Repressionsgesetze Europas beizukommen versucht hat). Seit Jahren diskutiert die Nation sehr kontrovers und ohne fühlbare Mehrheitsbildungen den von den Sozialisten geförderten, ehemals von der kriminellen Geheimloge „Propaganda 2“ ausbaldowerten Plan einer „Zweiten Republik“ nach dem Muster des de Gaulleschen Präsidialsystems. Der damit verbundenen autoritären Wende stünde Cossiga — dessen Namen Studenten noch heute des öfteren mit einem Runen-SS schreiben — wohl nicht sonderlich ablehnend gegenüber, und insofern erscheint vielen die starke Unterstützung verdächtig, die der Präsident derzeit von den Sozialisten erhält, ja, manche vermuten gar, er verfolge in deren Auftrag genau dieses Ziel. Doch der Plan hat ein Manko: Keiner will ihn als diesen starken Präsidenten. Parteifreund Andreotti, 71, will ihn, neues System hin, neues System her, auf jeden Fall im Quirinalspalast beerben: von daher Cossigas Wut auf die derzeitige Regierung. Doch es gibt noch mehr Gründe, die der Cossiga-Offensive zugrunde liegen könnten: Die nächsten Wahlen werden mit Sicherheit eine starke Kräfteverschiebung bringen. Die Kommunisten haben sich gespalten, fallen als geeinte Opposition aus, die Grünen haben starken Zulauf, die separatistischen oberitalienischen Ligen werden zwischen fünf und zehn Prozent einheimsen. Für die derzeitigen Machtträger stellt sich die Frage, mit welchen Mehrheiten nächstes Jahr die dann kurz nach der Parlamentswahl fällige Neubestellung des Staatsoberhaupts durchgeführt werden soll. Und da vermutet Cossiga denn nun, daß ihn viele auch sogenannte Freunde lieber vorzeitig loswerden, um einen Nachfolger mit den derzeitigen Mehrheiten zu wählen — und sein Amt vor allem in den Ämterschacher der nächsten Monate einzubinden, wenn die möglichen Koalitionen für die Zeit nach der Deputierten- und Senatorenwahl ventiliert werden. Durchaus möglich, daß er dem zuvorzukommen sucht — indem er die politischen Parteien so mächtig polarisiert, das Land derart mit seinen Attacken durcheinanderwirbelt, daß Regierungsunmöglichkeit eintritt und die Kammern aufgelöst werden müssen — damit eine neue politische Konstellation eintritt, die wieder auf ihn als Präsidenten auch für die nächsten sieben Jahre zurückgreifen könnte. Denn derzeit ist zumindest eines sicher: Außer den Karikaturisten mögen ihn nur noch die im Amt sehen, die herausfinden möchten, was sich denn ein Präsident unter der heute gegebenen Verfassung schon alles leisten kann.