INTERVIEW
: Raus aus der Isolation — hinein nach Europa!

■ Der Regisseur Kujtim Cashku ist 2. Vorsitzender des albanischen „Forums für die Verteidigung der Menschenrechte“/ Zuletzt hat er den Kadaré-Roman „Der zerrissene April“ verfilmt

taz: Wir sind seit Monaten Zeuge, wie viele tausend, vor allem junge Albaner mit nichts als ihren Kleidern auf dem Leib ihr Land verlassen — und das, obwohl auch in Albanien die Demokratisierung eingesetzt hat.

Kujtim Cashku: Die Flüchtlingsfrage ist ein Problem des gesamten europäischen Ostens und zugleich eine große Herausforderung für Westeuropa. Die Ursachen liegen darin, daß die totalitäre marxistische Utopie endgültig gescheitert ist. Ihre Verheißungen blieben auf dem Papier nichts als Demagogie. Aber sie polarisierte Europa und schlug den Völkern im Osten tiefe Wunden, geistig, seelisch und wirtschaftlich. Das gilt ganz besonders für Albanien, wo noch eine schreckliche, 48 Jahre währende Isolation dazukommt. Die Zerfallserscheinungen in der albanischen Gesellschaft haben eine tiefgreifende Unsicherheit ausgelöst. Wir haben es ja nicht nur mit einer schweren Wirtschaftskrise zu tun, sondern genauso auch mit einer Vertrauenskrise, mit einer schrecklichen Enttäuschung bei der gesamten Bevölkerung. Der Westen, von dem sie so lange abgeschnitten waren, ist für die Albaner vielleicht gerade deshalb zu einer Art Traum geworden. Sie sind inzwischen bereit, das Bekannte, nämlich die tragische wirtschaftliche Situation, gegen etwas gänzlich Unbekanntes einzutauschen, gegen ein vermeintliches Paradies, obwohl auch dort ebenfalls eine Menge Probleme auf sie warten. Gewiß wäre es viel wichtiger, den inneren Demokratisierungsprozeß voranzubringen, die nun existierende Opposition zu unterstützen, als sein Heil in der Flucht zu suchen.

Was wäre Ihrer Meinung nach die Alternative zu dieser Fluchtbewegung, vor allem angesichts der Wahlen?

Albanien braucht heute eine Stärkung der Opposition, eine nachdrücklichere Vertretung der demokratischen Bestrebungen, keine egozentrischen Lösungen. Die Probleme, die sich in einem halben Jahrhundert angesammelt haben, werden sich nur dann beheben lassen, wenn die Demokratie sich immer größere Spielräume erobert. Für uns Intellektuelle Albaniens ergibt sich daraus die Aufgabe, die Gesellschaft zu sensibilisieren, den Gedanken der Demokratie in allen Bereichen zu verbreiten, vor allem auch unter der Dorfbevölkerung, die von der demokratischen politischen Kommunikation bisher ziemlich ausgeschlossen ist. Man muß ja sehen, daß die Kommunistische Partei noch immer über sämtliche Machtarsenale verfügt, mit denen sie das Vordringen demokratischer Ideen, des demokratischen Programms in die ländlichen Regionen zu verhindern sucht. Ich denke, daß für die Albaner der einzige Ausweg aus ihrem tragischen historischen Geschick ihre Einbeziehung in den gesamteuropäischen Prozeß ist. Für das Gegenteil steht leider die Partei der Arbeit Albaniens.

Die noch immer herrschende Partei der Arbeit reklamiert bedeutende Erfolge im Aufbau des Sozialismus für sich, obwohl das Land heute völlig ruiniert ist. Wie war die Situation der Menschenrechte?

Erst einmal war da diese furchtbare Isolation. Die Selbstisolierung des Landes entsprang dem Überlebensinteresse der herrschenden Partei-Elite. Dazu kam der Personenkult. Mit den jetzigen Veränderungen in Albanien kommen nun Dinge, die bisher in der Öffentlichkeit tabu waren, von den bürokratischen Offiziellen vor der Welt geheimgehalten wurden, ans Licht. Die Zahl der politisch Verfolgten nahm immer mehr zu, denn ein zu Gefängnis Verurteilter mußte damit rechnen, daß seine ganze Familie interniert wurde. Das Gesetz gegen Agitation und Propaganda ermöglichte es, daß jemand wegen ein paar Äußerungen über die elementarsten Existenzbedingungen jahrelang hinter Gefängnismauern verschwand. Oft kam es noch im Gefängnis zu erneuten Verurteilungen, so daß eine große Zahl der Menschen, die in elf Konzentrationslagern zusammengefaßt waren — und das in einem Land mit einer Fläche von 28.000 Quadratkilometern und drei Millionen Einwohnern —, viel länger in Haft blieb, als es die gesetzliche Höchststrafe eigentlich erlaubte. Von den physischen Foltern dort ganz zu schweigen.

Welche Aufgaben hat sich das albanische Forum für die Verteidigung der Menschenrechte, dessen Vizevorsitzender Sie sind, gestellt?

Das Forum wurde nach Zulassung des Mehrparteiensystems in Albanien auf Initiative einer Gruppe von Intellektuellen gegründet. Wir bemühen uns nicht nur um engsten Kontakt zu den Betroffenen in unserem eigenen Land, sondern haben auch den Kontakt zu Schwesterorganisationen in vielen Ländern hergestellt. Wir unterstützen freigelassene politische Gefangene, denen das Recht auf Arbeit vorenthalten wird, die keine Wohnung zugewiesen bekommen, deren Familien oft noch interniert sind. Wir bemühen uns um ihre völlige Rehabilitierung. In Fällen, wo sich Menschen wegen sogenannter Verbrechen gegen den Staat, angeblicher Sabotage, Terrorismus usw., noch immer im Gefängnis befinden, haben wir uns mit einem Appell an das Oberste Gericht und an die Generalstaatsanwaltschaft gewandt, um eine gründliche Überprüfung aller dieser Fälle zu bewirken.

Weil in Albanien bis vor kurzem kein Justizministerium existierte und keine Rechtsanwälte zugelassen waren, bestehen wir grundsätzlich auf einer Überprüfung aller Urteile, die ohne die Anwesenheit eines Verteidigers gefällt wurden. Ferner fordern wir die Rücknahme der zum Teil unglaublich überhöhten Strafen — bis zu 20 Jahren —, die gegen Teilnehmer der jüngsten Bewegungen, etwa Demonstranten, verhängt worden sind. Viele dieser Demonstranten, zum Beispiel solche, die am Sturz des Enver-Hoxha-Denkmals oder an den Aktionen der Studentenbewegung seit dem 18. Dezember 1990 beteiligt waren, wurden außerdem physischer und psychischer Folter ausgesetzt. Interview: Joachim Röhm