Europas Nachzügler gehen zur Wahl

■ Jahrzehntelang hatte sich das Land mit den drei Millionen Einwohnern von Ost- wie Westeuropa abgeschottet. Jetzt kämpft auch hier ein kommunistischer Staatschef um Wählerstimmen. Seine Aussichten sind...

Europas Nachzügler gehen zur Wahl Jahrzehntelang hatte sich das Land mit den drei Millionen Einwohnern von Ost- wie Westeuropa abgeschottet. Jetzt kämpft auch hier ein kommunistischer Staatschef um Wählerstimmen. Seine Aussichten sind nicht schlecht, vorerst an der Regierung zu bleiben. Denn den Großteil der ländlichen Gesellschaft hat die Demokratisierung noch nicht erreicht.

In Durres stehen Panzer und schweres Geschütz. Die Hafengegend ist abgeriegelt. Wer in die albanische Adriametropole will, muß sich nicht nur ausweisen — er wird auch an der Straßensperre zurückgeschickt, falls die Ordnungskräfte den Verdacht haben, er wolle „Unruhe stiften“. Unruhe stiften will, wer auszuwandern versucht, übers Meer nach Italien. Daß es viele sind, die daran denken und für die die morgigen Wahlen eigentlich schon gelaufen sind, verschweigen mittlerweile nicht einmal mehr die fest in kommunistischer Hand befindlichen Medien.

Dabei sollten doch diese ersten Mehrparteienwahlen seit 1923 dem Armenhaus Europas zur Wende verhelfen. So versprachen es jedenfalls die Werbeplakate aller Parteien. Sieben sind es insgesamt: fünf neuentstandene Oppositionsgruppen, dazu zwei kommunistische Parteien: die traditionelle „Partei der Arbeit“ unter Staatschef Ramiz Alia und die von ihr abgespaltene „Demokratische Front der Werktätigen“.

Die Opposition marschiert getrennt in die Wahl — vereint wollen sich die Parteien gegebenenfalls danach schlagen: gegen die Kommunisten, mit denen alle von ihnen eine Koalition ausschließen, von der voraussichtlich größten unter ihnen, der Demokratischen Partei, über Republikaner, Grüne, Bauernpartei bis zur „Partei der religiösen Union“. Gemeinsam wollen sie mehr als die Hälfte der 250 Parlamentssitze gewinnen. Gegenüber den Journalisten geben sich ihre Politgrößen überzeugt, daß ihnen das auch gelingen wird — trotz aller Benachteiligung im Wahlkampf.

Mißtrauen — auch gegenüber der Opposition

Die Oppositionsführer weisen jene Kritik weit von sich, die unter der Bevölkerung unverändert kursiert: Man könne auch ihnen nicht vertrauen, als Söhne aus der Nomenklatura seien sie ebenfalls privilegiert gewesen. Außerdem hätten nicht wenige von ihnen früher der Kommunistischen Partei angehört. Hartnäckig halten sich sogar Gerüchte, die Einführung des Pluralismus sei nur ein abgekartetes Spiel der Kommunisten, um die Rollen neu zu verteilen. Ein tiefsitzendes Mißtrauen, das möglicherweise die Wahlbeteiligung senken wird — zuungunsten der Opposition.

Spricht man mit Albanern, so gehen die meisten davon aus, daß die Kommunisten weiter an der Macht bleiben werden, ähnlich wie in Rumänien und Bulgarien vor einem Jahr. Immer noch leben 65 Prozent der Einwohner Albaniens in Dörfern und Weilern, die nur schlecht mit den städtischen Zentren verbunden sind, so daß die Ideen der Opposition nur spärlich in Provinz und Gebirge vordringen. Zum anderen haben die Leiter der örtlichen Kolchosen — allesamt stramme Kommunisten — weiterhin das Sagen, sie empfinden jede Kritik als persönliche Beleidigung und können immer noch willkürlich Leute festnehmen, wie das „Forum zur Verteidigung der Menschenrechte“ (siehe Interview) gestern mitteilte. Danach sitzen weiterhin Hunderte von politischen Häftlingen hinter Gittern. Manch einer, weil er eine Stalinbüste besprüht oder sich kritisch über Ramiz Alia geäußert hatte.

Schwierigkeiten macht den Oppositionsparteien aber nicht nur der gemeinsame Gegner. Keine von ihnen tritt mit einem klaren Programm auf. Alle versprechen sie Demokratie, Marktwirtschaft und eine bessere Zukunft, ohne konkret zu werden. Nuancen finden sich nur in der Agrarpolitik — die allerdings angesichts der katastrophalen Versorgung von zentraler Bedeutung ist. Die „Demokratische Partei“ setzt sich für die völlige Privatisierung der Kooperativen ein, die „Republikaner“ ebenso, doch die wollen nur jene Landarbeiter privilegieren, die später den Boden landwirtschaftlich nutzen wollen. Die alte KP ihrerseits setzt auf die Erhaltung der Staatsgüter, sie spricht nur von Modernisierung und marktwirtschaftlicher Produktion mit „gerechter Gewinnausschüttung“.

In anderen kritischen Punkten haben Ramiz Alia und seine Wendehälse der Opposition den Wind bereits aus den Segeln genommen. So wird eine Lagerhalle nach der anderen zur Kirche, Moschee oder Synagoge. Als Enver Hoxha 1967 Albanien zum ersten atheistischen Staat der Welt ausrief, da wurden nicht nur alle Gotteshäuser geschlossen, sondern auch „im Sinne der sozialistischen Errungenschaften“ in Fabriken oder Lagerhallen umgewandelt — nur wenige machte man zu Museen oder Kulturhäusern. Jetzt strömen die Gläubigen wie einst in Scharen in die jeweiligen Gotteshäuser, eine im tristen Alltag nicht zu unterschätzende Abwechslung — offenbar nicht nur für ältere Leute. Nach wie vor spielt übrigens das staatliche Radio keine westliche Rockmusik, Studenten warten selbst in der Hauptstadt Tirana noch immer vergebens darauf, ihre Disko in Eigenregie eröffnen zu dürfen.

Ein weiteres heißes Eisen wurde in einem „historischen Kompromiß“ von allen Parteien bislang ausgeklammert: die Rolle des Staatsgründers und Stalinverehreres Enver Hoxha, dessen umgestürztes Denkmal Mitte Februar Furore machte. Was damals Vorbote für einen gewaltsamen Sturz des Regimes hätte sein können, wurde in letzter Minute gestoppt — im Einvernehmen mit den oppositionellen Parteien.

Zwar wurden die Hoxha-Statuen nirgends, außer in dessen Geburtsort Gjirokastra wieder auf ihre Sockel gehoben. Aber die Kritik der Studenten an den „sozialistischen Errungenschaften“ wurde gemeinschaftlich unterdrückt. Wer immer konnte, distanzierte sich von ihnen als den „Hooligans“ und „Anarchisten“. Über die Hetzjagd, die dann folgte, verloren auch Oppositionelle kein Wort. Noch immer sitzen nach offiziellen Angaben 70, vielleicht aber auch Hunderte von „Hoxha-Vandalisten“ hinter Gittern.

Albanischer Nationalismus erwacht

Noch ein anderer Aspekt des Wahlkampfes könnte schon bald Sprengstoff liefern. Alle zur Wahl antretenden Parteien versuchen, sich gegenseitig in einem neuerwachten Nationalgefühl zu übertrumpfen. Nicht ungefährlich, wenn man weiß, daß im zusammenbrechenden Jugoslawien über zwei Millionen Albaner leben, die dort aller ihrer Minderheitsrechte beraubt sind. Auch sie schauen hoffnungsvoll nach Tirana, das sich in der Vergangenheit immer gehütet hatte, Partei für die Brüder und Schwestern im Kosovo zu ergreifen. Doch damit scheint es vorbei zu sein.

Die Demokratische Partei hatte schon in ihrem Gründungsaufruf die Behauptung gewagt, Europa habe die Grenzen immer über die Köpfe der Albaner hinweg gezogen, und nun gelte es, in einem neuen Europa das „historische Unrecht“ wiedergutzumachen., Am letzten Dienstag konnte man nun auch im Zentralorgan der Kommunistischen Partei Ausführungen des Außenministers lesen, der erklärte: „Historische Ungerechtigkeiten wie die Kosovofrage sind offene Probleme. Europa hat uns in jüngster Zeit ein konkretes Beispiel gegeben, wie eine geteilte Nation auf friedlichem Weg im Geiste der KSZE vereint wurde. Warum könnte das nicht auch für die nationale Frage der Albaner möglich sein?“

Solcherlei Träumereien von einem Großalbanien sind durchaus gefährlich, denn gleichzeitig mehren sich in Serbien die Stimmen derer, die den Besitz von Kosovo „mit Waffengewalt verteidigen“ wollen. Wie zum Beispiel der starke Mann Serbiens, Slobodan Milosević.

Sollte aus den albanischen Wahlen eine labile Regierung hervorgehen, die mit nationalistischen Tönen versucht, die fast unüberwindlichen Probleme des Landes zu vertuschen, dann könnte auch Albanien leicht in den Nationalitätenstrudel hineingeraten, der gerade Jugoslawien zum Zerreißen bringt. Roland Hofwiler/Albanien